© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/16 / 09. September 2016

Hamburgs Bombeninferno brachte die Wende
Aus britischer Historikersicht: Deutscher Alltag während des Zweiten Weltkrieges
Oliver Busch

Nicholas Stargardts Buch über die Deutschen im Zweiten Weltkrieg, im vorigen Jahr gleichzeitig in England und in der Bundesrepublik erschienen, ist von den Rezensenten diesseits und jenseits des Kanals als großer Wurf gepriesen worden. Angelsächsische Kollegen des in Oxford lehrenden Zeithistorikers begrüßten das Werk als Beitrag zur Mentalitätsgeschichte, der, wie Mark Roseman meinte, „erstmals“ eine „Chronologie der Stimmung“ gebe, in der die Reichsdeutschen die Kriegszeit durchlebt hatten. Das bundesdeutsche Feuilleton reagierte ähnlich enthusiastisch, wollte Stargardt aber nicht als Pionier auf dem üppig blühenden Forschungsfeld „Kriegsalltag 1939 bis 1945“ feiern, sondern wagte den Vergleich mit Walter Kempowskis kollektivem „Echolot“-Tagebuch, um dessen wahres Verdienst herauszustreichen. 

Demnach ersetze seine voluminöse Darstellung Kempowskis zehn dicke Bände mit ihren von keiner Erläuterung begleiteten, den Leser allein lassenden Collage von Zeitzeugnissen, indem sie sich quasi als deren kommentierte Auswahlausgabe anbietet. Erleichtert scheint man über die Rückkehr eines solchen auktorialen, allwissenden Erzählers zu sein, der Ordnung in das vermeintliche Chaos der Zettelkastenwirtschaft des gern als bloßer „Sammler“ geringgeschätzten Kempowski bringt.

Es ist nicht zu bestreiten: Wer es vorzieht, Vergangenheit im bewährten Raster zu rezipieren, fährt mit Stargardt weit besser als mit dem 2007 verstorbenen „deutschen Chronisten“. Doch er bezahlt dafür einen hohen Preis. Denn mit Ausnahme erstaunlich spärlicher Quellen, die der, nach eigener Aussage, seit Jahrzehnten ans Thema gefesselte Stargardt etwa im Archiv „Jehovas Zeugen in Deutschland“, im Feldpost-Archiv des Berliner Museums für Kommunikation oder, drolligerweise, denn das „Echolot“ wird hartnäckig ignoriert, im Kempowski-Archiv der Berliner Akademie der Künste selbst erschlossen hat, greift der Autor hauptsächlich auf den sattsam bekannten Kanon gedruckter Erinnerungen, Tagebücher und Briefe zurück, darunter auf „Klassiker“ wie Victor Klemperer, Ursula von Kardorff, Hans-Georg von Studnitz, Liselotte Purper, Wilm Hosenfeld und Paulheinz Wantzen. 

Anstelle des vielstimmigen Chors, den Kempowski aus Tausenden, in den Nachlässen zumeist „einfacher Menschen“ überlieferter Zeugnisse komponiert, tritt somit eine arg komprimierte Kompilation weniger, seit langem vertrauter Texte, die noch dazu auf den deutschen Horizont begrenzt sind und die mit der polyphonen Internationalität des „Echolots“ nicht konkurrieren können. Auffällig ist zudem, wie spärlich das „andere Deutschland“ zu Wort kommt, obwohl aus dem Familienbesitz der Bonhoeffers, Moltkes oder Dohnanyis seit den 1980ern Dokumente zuhauf ediert worden sind, auf die schwerlich verzichten sollte, wer eine „dichte Beschreibung“ (Clifford Geertz) des hochkomplexen, durch den nationalsozialistischen Totalitätsanspruch kaum unterdrückten Pluralismus weltanschaulich-politischer und sozialer Milieus in der deutschen Kriegsgesellschaft anstrebt.

Trotzdem beweist Stargardt Gespür für die schier unauflöslichen Widersprüche, das allzu oft in Aporien mündende Vexierspiel der von ihm präsentierten Phänomene. Dem verdankt seine Arbeit ihre stärksten, von moralisierenden Verengungen verschonten Kapitel. So legt er etwa die vertrackte Dialektik frei, die dem Propaganda-Coup immanent war, den Joseph Goebbels im April 1943 mit der Entdeckung der Massengräber von Katyn zunächst landete. Die dort verscharrten, von Stalins Schergen erschossenen polnischen Offiziere gab der Minister für „Volksaufklärung“ als Opfer des „jüdischen Bolschewismus“ aus. Offensichtlich nicht berücksichtigend, daß er sein Publikum seit 1939 dazu erzogen hatte, Polen als „slawische Untermenschen“ zu verachten. Daher erregte er weder Mitleid mit den Ermordeten, noch stachelte er den Haß gegen ihre Mörder auf. 

Den Deutschen bescherte Katyn zudem nicht die erste verstörende Kollision mit der Realität. Der Mythos Volksgemeinschaft bröckelte angesichts der Spannungen zwischen den Massen evakuierter „Bombenflüchtlinge“ und der Landbevölkerung. Auf ethnische Homogenität eingeschworen, mußte man lernen, die Zumutung von acht Millionen ausländischen Arbeitskräften und Kriegsgefangenen zu akzeptieren. Mit Fassungslosigkeit erinnerte man sich an Adolf Hitlers Versicherung, in Stalingrad bräuchte es bis zum Sieg nur „kleiner Stoßtrupps“. Stattdessen kapitulierte die an der Wolga eingekesselte 6. Armee elf Wochen nach dieser Rede. 

Propaganda kollidierte mit der Realität des Krieges 

Eindrücklich rekonstruiert Stargardt, wie das sich danach epidemisch ausbreitende Mißtrauen gegenüber regierungsamtlichen Versionen von Wirklichkeit umschlug und die Legitimitätsbasis der NS-Herrschaft erodieren ließ. Vor allem, weil der angelsächsische Bombenkrieg den Kontrast zwischen medial konstruierter und erlebter Realität Woche für Woche verschärfte. In Stargardts geschicktem Arrangement der Ereignisse bringt deshalb nicht Stalingrad, sondern die „Operation Gomorrha“, die 40.000 Tote kostenden anglo-amerikanischen Terrorangriffe auf Hamburg, das Regime ins Wanken. 

Im Sommer 1943 wagten sich braune Uniformträger deswegen nur in Zivil in die Öffentlichkeit. Die Gestapo unternahm nichts mehr gegen „heimtückische“ rhetorische Angriffe auf Partei und Staat. Und auch überall laut artikulierte Rufe nach einer „italienischen Lösung“, einem Militärputsch, wie er in Rom im Juli 1943 stattgefunden und zur Entmachtung Mussolinis geführt hatte, blieben ungeahndet. Gerade die Lage in Italien brachte aber nach dieser August-Krisis, die das Regime klar „auf dem Rückzug“ sah, die Wende. Die „blitzschnelle militärische Aktion“ dort bewies, daß das Reich nicht so wehrlos war, wie es nach dem Hamburger „Feuersturm“ gewirkt hatte.

Welche psychischen Reserven die Führung nach Stalingrad und Hamburg abermals stabilisierten und das kollektive Widerstandspotential derart regenerierten, daß die deutsche Volksgemeinschaft noch zwanzig Monate weiterkämpfte, deutet Stargardt leider kaum an. Auch hier enden Erklärungsversuche in Aporien. Warum versteckte Wilm Hosenfeld, Katholik, Offizier, SA-Mann und NSDAP-Mitglied, in Warschau den jüdischen Pianisten Wladyslaw Szpilman, wurde aber nie an seinem Patriotismus irre und wünschte nie die Kriegsniederlage Deutschlands, die allein das Überleben von polnischen Juden wie Szpilman garantierte? Was Hosenfeld und viele seiner von Stargardt zitierten Landsleute an Front und Heimatfront, Männer wie Frauen, ungeachtet aller widerstreitenden Gefühle, mental sechs Kriegsjahre hindurch trug, dürfte jener festen Verwurzelung in der nationalen Gemeinschaft nahe gekommen sein, die Peter Stölten, ein im August 1944 bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands eingesetzter Kamerad Hosenfelds, beim Abzug der polnischen Kämpfer in die Gefangenschaft Bewunderung abnötigte. Unbeugsamer Nationalstolz, Entschlossenheit und unerschütterlicher Glaube hätten die Polen zu heldenhaftem Widerstand befähigt und die scheinbar Besiegten über die nur materiell überlegenen Deutschen triumphieren lassen. Der deutsch-jüdische Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858–1918) beschrieb eine solche Identifikation etwas abstrakter als „Einstellung des Subjekts in eine höhere Ordnung, die es doch zugleich als etwas Innerliches und Persönliches empfindet“. 

Nicholas Stargardt: Der deutsche Krieg. S. Fischer Verlag, Berlin 2015, gebunden, 848 Seiten, 26,99 Euro