© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/16 / 26. August 2016

Von Macadamianuß und Pomelo lernen
Aktuelle Trends der staatlichen Forschungsförderung in den Lebens- und Ingenieurwissenschaften
Christoph Keller

Wie viele Milliarden allein die Sprachförderung und Bildung der zahllosen Flüchtlinge in den kommenden Jahren kosten wird, weiß niemand. Auf jeden Fall werden es mehr sein als jene drei Millarden Euro, die der Gesamthaushalt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für 2015 auswies. Für was konkret die Steuergelder fließen, verrät regelmäßig der DFG-Jahresbericht.

Besonders betont werden darin die „Praxisbezüge“ der Förderungspalette in den Lebens-, Natur- und Ingenieurwissenschaften – sprich: Die ausgewählten Beispiele sollen zeigen, wie kurz der Weg zwischen Grundlagen- und anwendungsbezogener Forschung ist, um den Verdacht zu entkräften, Steuergelder könnten in Unternehmungen fließen, deren Erkenntnisse bestenfalls der übernächsten Generation zugute kämen.

Festigkeit und Zähigkeit wie beim Vorbild Natur

Am wenigsten mit dem Odium akademischer Weltferne belastet sind traditionell die Ingenieurwissenschaften. Den Autoren des Jahresberichts fällt es daher leicht, hier handfest Nützliches zu präsentieren. Nicht ohne mit scheinbar Verschrobenem zu kokettieren. Befaßten sich doch die Forscher am Institut für Werkstoffwissenschaften der TU Berlin zusammen mit Biologen an der Uni Freiburg und Ingenieuren der RWTH Aachen bis zum Projektabschluß 2015 ausgerechnet mit Pflanzenprodukten: der kleinen Macadamianuß und der größten Zitrusfrucht, der bis zu zwei Kilo schweren Züchtung Pomelo.

Für Materialwissenschaftler sind beide biologische Vorbilder: Pomelos fallen aus zehn Metern auf den Erdboden, ohne daß ihre nur drei Zentimeter dicke Fruchtschale, die 90 Prozent der Energie auffängt, durch den Aufprall sichtbare Schäden erleidet. Vergleichbar widerstandsfähig ist die zwei Millimeter dünne Macadamia-Schale, die nur mit einer Kraft von 400 Kilo zu knacken ist. Die Natur zeigt damit, was an Steifigkeit, Festigkeit und Zähigkeit erreichbar ist.

Stoßdämpfende Eigenschaften biologischer Strukturen, so lautete daher das Forschungsziel, deren Grundprinzipien auf die Konstruktion von Fahrradhelmen, Gefahrgutbehältern oder Brücken übertragen werden sollten. Welchen Katastrophen mit bio-inspiriertem Material im Extremfall vorgebeugt werden könnte, illustriert ein Blick auf die 1940 eingestürzte Tacoma-Narrows-Hängebrücke im US-Bundesstaat Washington, die vier Monate nach ihrer Eröffnung der Kraft des Windes erlag, weil ein Materialfehler immer größer werdende Resonanzschwingungen verursachte, denen das Tragwerk nicht standhielt.

Die Forschergruppe „Hybride intelligente Konstruktionselemente“ hatte ein ähnliches Menetekel vor Augen: die 2006 eingestürzte Eislaufhalle in Bad Reichenhall. Der Schneelast nicht gewachsen, begrub das Dach 49 Menschen unter sich, 15 starben. Am Institut für Konstruktionstechnik der Uni Stuttgart entwickelten die Forscher daher „intelligente“ Randseile und verschiebbare Auflageelemente, die eine Dachschale so verformen, daß sie Auswirkungen einseitiger Last reduziert, sowie Seilvorspannungen, die Schwingungen von Hochhausfassaden unter Windböen verhindern.

Voraussage und mögliche Abwendung von Gefahren

Ebenfalls auf die Prävention von Unfällen wie dem spektakulären Einsturz des Kölner Stadtarchivs (2009) zielten als DFG-Vorhaben abgeschlossene Untersuchungen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Dort war man schon in den 1990ern erstaunt über den Regelungseifer der EU-Kommission, die eine seit 2012 verbindliche europäische Baunorm ausarbeitete, die gesetzlich fixierte, daß künftig der Einfluß von Konstruktionsprozessen auf Nachbar-Bebauung abgeschätzt werden müsse.

Dabei ließen sich solche Vorhersagen nach dem damaligen Stand der Technik gar nicht treffen. Die Großbaustelle am Potsdamer Platz in Berlin als Freilandlabor nutzend, haben die Karlsruher seit 2009 nun solche „Verformungsprozesse bei geotechnischen Herstellungsprozessen“ studiert. Mit ihren Modellen, so lautet das positive Fazit, hätten sie endlich Grundlagen geschaffen, die von der EU voreilig vorausgesetzt wurden, so daß heute Bauingenieure sich in der Praxis daran orientieren können, um Risse und Verformungen an oder gar Einstürze von Häusern nahe ihrer Baustelle zu vermeiden.

Um die Abwendung von Gefahren für Leib und Leben geht es auch in einigen Vorzeigeprojekten in den Lebenswissenschaften. So fragen Mediziner und Biologen unter der Federführung des Bonner Instituts für Virologie im Rahmen des DFG-Programms „Ökologie und Speziesbarrieren bei neuartigen Viruserkrankungen“, wie Säugetiere, Insekten und Viren als deren ständige Begleiter auf die Abholzung der Regenwälder reagieren und wie der Wirtswechsel von Virenarten über die Speziesbarriere hinweg zu verhindern ist. In Erinnerung an zurückliegende Virusepidemien wie Sars, Mers und Vogelgrippe sowie in sicherer Erwartung zukünftiger Epidemien ist das keine kleine Herausforderung. 

Auch womit sich ein 2015 am Bonner Institut für Molekulare Physiologie und Biotechnologie der Pflanzen eingerichtetes Graduiertenkolleg bis 2020 befassen soll, ist in Zeiten des Klimawandels von gesteigerter praktischer Relevanz: die Trockentoleranz bei Pflanzen. Längere Dürreperioden sind von Südhessen über Nordbayern, Sachsen bis in die Lausitz hinein, wo der Boden, zumindest die oberen 30 bis 60 Zentimeter, so trocken ist wie seit 1960 nicht mehr, inzwischen auch hierzulande zu registrieren. Damit die Ernteerträge nicht dauerhaft sinken, wolle man Pflanzen für diese Dürrezeiten vorbereiten. Ansatzpunkt dafür ist die Analyse genetischer Mechanismen, die zur Trockenheitstoleranz beitragen.

So produzieren etwa einige Gerstensorten Substanzen, die ihre Wurzeln vor Verdunstung schützen und sie so „hervorragend“ an trockene Standorte anpassen. Weiß man in vier Jahren mehr über den genetisch determinierten Zusammenhang von Wassermangel und Pflanzenstoffwechsel, eröffnen sich für die Züchtung nach dem „Modell Gerste“ ungeahnte Möglichkeiten.





Deutsche Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) entstand 1951 aus der ursprünglich 1920 gegründeten Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft und dem 1949 konstituierten Deutschen Forschungsrat. Mit der Auflösung des Forschungsrates der DDR wurde die Bonner DFG 1990 gesamtdeutsch tätig. Der gemeinnützige Verein ist mit einem Jahresetat von fast drei Milliarden Euro die größte Forschungsförderungsorganisation der EU. Zwei Drittel des Etats überweist der Bund, der Rest kommt von den Ländern. DFG-Präsident ist seit 2013 der Mittelalterforscher Peter Strohschneider, der an der Ludwig-Maximilians-Universität München den Lehrstuhl für Germanistische Mediävistik innehat. Mit 796 Millionen Euro floß 2015 der Löwenanteil (38,5 Prozent) der DFG-Projektgelder in die Medizin- und Biowissenschaften (Life Sciences). Die Naturwissenschaften erhielten 482,2 Millionen, die Ingenieurwissenschaften 443,7 Millionen sowie die Geistes- und Sozialwissenschaften 345,1 Millionen Euro.

Jahresbericht 2015 der DFG:  www.dfg.de