© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/16 / 26. August 2016

Faszination des Raumes
Vejas Liulevicius und seine Kontinuitätsthese zwischen Ober Ost und dem Reichskommissariat Ostland
Matthias Bäkermann

In einem teilt der US-Historiker Vejas Liulevicius in seiner kritischen Analyse der deutschen Herrschaft in ihrem „Kriegsland im Osten“ die Einschätzung der damaligen „Verwaltungssoldaten“ von Ober Ost: „Die Besatzer fanden sich in einer fremdartigen Landschaft wieder, konfrontiert mit fremden Menschen und unbekannten Traditionen, kulturellen Identitäten und geschichtlichen Hintergründen.“ 

Jede Maßnahme wird als Kolonialismus denunziert

Als die Deutschen 1915 siegreich auf die Linie von der Dünamündung bis zur Bukowina vorstießen, beherrschten sie ein „Land in großer Unordnung“. Das hatte aber nicht nur, wie Liulevicius betont, mit der „Politik der verbrannten Erde“ der zurückdrängenden russischen Armee zu tun, sondern wohl auch mit dem kulturellen Rückstand, der in diesem Teil des Russischen Reiches vor allem in der Infrastruktur von Stadt und Land offenkundig wurde. Das Eisenbahnnetz war dünn, Straßen, wenn vorhanden, waren kaum befestigt etc. pp.: „Für die Deutschen bestand das spezifische Merkmal dieses Landes vor allem darin, daß sie hier im Schmutz und in den Trümmern des Kriegs im Osten versanken“, interpretiert Liulevicius, um gleichsam in der verwaltungsmäßigen Ordnung von Ober Ost eine arrogante Kulturmission anzuprangern: „Eine typisch ‘deutsche’ Art der Arbeit würde dem Land einen deutschen Stempel aufdrücken, es so umgestalten, daß sich die Besatzer schließlich selbst in ihm wiedererkannten.“

In der Tat sprechen Anhaltspunkte für einen ab und an chauvinistischen Habitus der dort in der dünnbesiedelten und rückständigen Tristesse „ihre Arbeit“ verrichtenden deutschen Offiziere und Beamten. Zudem war es naturgemäß so, daß die Priorität von Ober Ost in der Stabilisierung eines großen Gebietes im Rückraum der Front bestand, deren störungsfreie militärische Logistik sicherzustellen war. Allerdings denunziert Liulevicius auch noch die kleinste Anstrengung einer Verbesserung der Lage in Ober Ost als „kolonialistischen“ Akt – selbst „sanitätspolitische Maßnahmen“ wie Entlausungsaktionen in den Städten oder Zwangsimpfungen werden als brutale Vergewaltigung der Bevölkerung interpretiert. Dabei stützt sich der Historiker vorwiegend auf litauische „Quellen von unten“ aus den zwanziger Jahren, ohne gleichsam auch deren nationalistische Färbung kritisch zu hinterfragen.

Derart holzschnitthaft geraten auch durchaus bedenkenswerte Ansätze (wie zum Beispiel der „Ostland“-Mythos der zwanziger Jahre) zu Konstrukten, die eine Kontinuität nicht nur zur nationalsozialistischen Besatzungszeit im „Reichskommissariat Ostland“ aufzeigen, sondern überhaupt die Wurzeln der NS-Lebensraumidee offenlegen sollen. So habe Ober Ost dazu beigetragen, daß „diejenigen, die den Osten gesehen hatten, noch weitergehende Ideen entwickeln konnten“. Einen schlüssigen Beleg für diese Behauptung bleibt Liulevicius schuldig.

Vejas Gabriel Liulevicius: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft. Hamburger Edition, Hamburg 2002, gebunden, 374 Seiten, 35 Euro