© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/16 / 26. August 2016

Martin Walser ist kein Gesellschaftskritiker
TV-Interview: Thea Dorn in einem Mammutgespräch mit dem Schriftsteller zu nachtschlafender Stunde im ZDF
Ronald Berthold

Sehenswerte Dinge kommen im ZDF oft nachts. Das Gespräch zwischen Thea Dorn und Martin Walser, das Sonntag früh gesendet wird, gehört in diese Kategorie. Die Journalistin (46) interviewt ihren fast doppelt so alten Kollegen. Der 89jährige plaudert über seine Kindheit, den Krieg, seine Zeit als SDR-Reporter und Dichter. Er streift die Gruppe 47 und spricht über Auschwitz und dessen Instrumentalisierung.

Von der Judenvernichtung habe er – wie auch NSDAP-Funktionäre in seiner Umgebung – erst „nachträglich“ erfahren, sagt Walser. Von Dachau habe er gewußt, aber schon die Existenz dieses Arbeitslagers sei ein Tabu gewesen, über das man im NS-Staat nicht sprach.

Zur linken Gruppe 47 sei er als SDR-Reporter gestoßen. Der einzige Gegenwartsautor, der ihn damals aber wirklich „fasziniert“ habe, sei Arno Schmidt gewesen. Und der habe mit der Schriftstellervereinigung „nichts zu tun haben“ wollen. 

Mit der SPD habe er schon gebrochen, sagt Walser, als er 1961 Willy Brandt kennengelernt habe. Dieser habe ihm damals das schnelle Ende des Vietnam-Konfliktes versprochen, und Walser wußte, daß das „nicht wahr“ war. Auch die zeitgeistige Haltung, Gesellschaftskritik müsse die „Hauptfunktion der Literatur“ sein, habe er abgelehnt.

Walser, der sich 1964 die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main anschaute, bedauert bis heute, daß sein Vorwurf, der Holocaust werde instrumentalisiert, mißverstanden worden sei. Er habe damit nicht die Juden gemeint, sondern Deutsche wie Walter Jens und Günter Grass, die die deutsche Teilung als „gerechte Strafe“ für Auschwitz bezeichnet hatten: „Davor warne ich“, sagt der Schriftsteller. Denn jeder wisse, „die Teilung hatte alles andere als Ursache, nur nicht Auschwitz“.

Zeugen des Jahrhunderts. Martin Walser im Gespräch mit Thea Dorn. Sonntag, 28. August, 0.10 Uhr. Nach der Ausstrahlung (45 Minuten) ist das gesamte dreistündige Gespräch online verfügbar:

 www.jahrhundertzeugen.zdf.de