© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/16 / 26. August 2016

Transatlantische Wiedervereinigung
Linde AG: Der größte deutsche Industriegaskonzern will mit dem US-Konkurrenten Praxair fusionieren / Wer ist Koch und wer Kellner?
Thomas Fasbender

Wer macht das Rennen, wenn die Nummer zwei und drei im weltweiten Industriegasemarkt demnächst fusionieren: Wolfgang Büchele, Vorstandsvorsitzender des 137 Jahre alten Traditionskonzerns und Dax-Schwergewichts Linde, oder Stephen Angel, Chef des US-Konkurrenten Praxair? Das Unternehmen mit Sitz in Danbury im Ostküstenstaat Connecticut ist zwar nur halb so umsatzstark, dafür mehr als doppelt so gewinnträchtig. Während Praxair seine verlustreiche Flugzeugwartung vor Jahren verkauft hat, hängt den Münchnern ihr unprofitabler Anlagenbau – 14 Prozent des Umsatzes – weiter am Bein. Hauptprodukt beider Konzerne sind die Produktion und der Vertrieb von Industriegasen.

Derzeit wird über über einen möglichen Kompromiß spekuliert: Der gemeinsame Konzern, der mit rund 29 Milliarden Euro Umsatz und über 90.000 Mitarbeitern mit deutlichem Abstand vom Start weg der globale Branchenprimus wäre, könne durchaus Linde heißen und in Europa angesiedelt sein. Im Gespräch sind offenbar aus steuerlichen Gründen Irland und die Niederlande. Im praktischen Geschäft werde Deutschland und München weiter eine zentrale Rolle zukommen.

Den Chefposten übernähme diesem Szenario zufolge ein Amerikaner – wahrscheinlich der 60jährige Praxair-Chef Angel. Für Büchele, der zuletzt im Zusammenhang mit der Kritik an seinem Finanzvorstand Georg Denoke nicht unumstritten war, liefe das auf eine sanfte Landung hinaus: einmalige Verlängerung seines derzeit noch bis Mai 2017 laufenden Vertrags, danach Beförderung auf einen Posten mit Orden und Ehrenzeichen, doch ohne Macht. Für den gelernten Maurer und promovierten Chemiker Büchele (57) muß das kein Karriereknick sein. Er hat andere Felder, auf denen er sich erfolgreich profiliert. Etwa als Vorsitzender des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft seit eineinhalb Jahren, wo er den transatlantischen Ideologen im Kanzleramt beharrlich und durchaus erfolgreich Paroli bietet.

Wenn es zur Fusion der beiden Unternehmen kommt, gebührt der Lorbeer vor allem einem: Wolfgang Reitzle, summa-cum-laude-promovierter Maschinenbauer, als „car guy“ bewunderter BMW-Entwicklungsvorstand und -Kronprinz, später elf Jahre lang, bis 2014, an der Spitze der Linde AG, seit Mai 2016 ihr Aufsichtsratsvorsitzender.

Kartellrechtliche Bedenken?

Sein Werk als Vorstandschef, Linde an die Weltspitze katapultiert zu haben, wurde zu Anfang dieses Jahres mit der Übernahme der amerikanischen Airgas durch die französische Air Liquide zunichte gemacht. Seither fristet Linde das triste Los der Nummer zwei. Doch das läßt ein Reitzle nicht auf sich sitzen. Wenige Tage nach seinem Antritt als Aufsichtsratschef verkündete Büchele, Linde werde bald wieder an der Branchenspitze stehen. Große Übernahmen – da bremste er die Erwartungen – seien jedoch nicht geplant. Zu dem Zeitpunkt war schon klar, daß man die Fusion mit der annähernd gleich bewerteten Prax­air der Öffentlichkeit nur bedingt als Übernahme würde verkaufen können.

Wenige internationale Märkte sind derart konsolidiert wie die Industriegase. Vier Unternehmen – Air Liquide/Airgas, Linde, Praxair und Air Products (USA) – kontrollieren vier Fünftel des weltweiten Geschäfts. Kartellrechtsexperten hegen daher keine Zweifel, daß die geplante Fusion bei den Wettbewerbshütern auf Widerspruch stößt. Praxair ist zwar vor allem in Nord- und Südamerika aktiv, weniger in Asien und Europa, doch Lindes Marktanteile in den USA sind beachtlich. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die US-Fusionskontrollbehörden die Transaktion nur unter Bedingungen genehmigen. Solche Auflagen stellen einen der möglichen „Deal Breaker“ dar.

Thomas Funke von der Kanzlei Osborne Clarke erinnert im Handelsblatt daran, daß ein Großteil der Industriegase Standardprodukte sind: „Sollte Linde die Preise anheben, kann es etwa für größere Chemieunternehmen lohnen, die Industriegase selbst herzustellen.“ Allerdings könne Linde diese Argumentation den Wettbewerbshütern gegenüber auch als Verteidigungsstrategie benutzen.

Bislang sind beide Seiten mit offiziellen Verlautbarungen zurückhaltend. Der Dax-Konzern meldete: Die Gespräche hätten noch „zu keinen konkreten Ergebnissen oder Vereinbarungen geführt“. Insider rechnen mit einem Aktientausch, Linde verhandele mit den Amerikanern „auf Augenhöhe“. Trotz der Größenunterschiede liegt die Börsenbewertung bei jeweils rund 30 Milliarden US-Dollar. Ausschlaggebend dafür ist der Praxair-Gewinn von rund 1,5 Milliarden Euro – die Münchener bilanzierten 2015 nur 1,15 Milliarden Euro.

An der Börse sorgen die Nachrichten bislang für gute Stimmung. Branchenexperten sehen die Perspektive, in einem von Überkapazitäten geprägten Markt Synergien freizusetzen – Schätzungen zufolge geht es bei Linde und Praxair um ein Einsparpotential von 800 Millionen Euro. Nicht umsonst haben Linde-Aktien seit Juli um 15 und Praxair-Papiere um acht Prozent zugelegt.

Eine Linde-Praxair-Fusion wäre auch eine Art Wiedervereinigung: Der US-Konzern wurde ursprünglich 1907 durch Ritter von Linde – den genialen Ingenieur, Hochschullehrer und Linde-Gründer – als Linde Air Products Company gegründet. Die Firma stellte flüssigen Sauerstoff nach dem Linde-Verfahren her, bis 1917 kriegsbedingt die Zwangsfusion mit Union Carbide erfolgte. 1992 wurde aus dem Teilkonzern Union Carbide Industrial Gases schließlich die selbständige Firma Praxair.