© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/16 / 19. August 2016

Hier säuselt der Kalmus
Kino: In „Alles was kommt“ spielt Isabelle Huppert eine Philosophielehrerin
Sebastian Hennig

Der originale Filmtitel „L’Avenir“ von Mia Hansen-Løve wurde vom deutschen Verleih zutreffend, aber sperrig „Alles was kommt“ übersetzt. Isabelle Huppert spielt die Philosophielehrerin Nathalie, die vom Schicksal sachte, aber unumkehrbar an die Grenzen ihrer Lebensweisheit geführt wird. Reichlich Situationskomik ergibt sich aus der Spannung zwischen ihren Einsichten und den Forderungen der Wirklichkeit.

Mit Mann und Kindern spaziert sie zu Beginn des Films bei Ebbe von Saint-Malo auf die Halbinsel Grand Bé zur Ruhestätte von Chateaubriand. Sie liest auf der Tafel die letzte Bitte des Poeten an die Besucher, hier nur Meer und Wind hören zu lassen.

Nathalie ist streng. Anders als bei ihrem gleichermaßen ernsten wie jovialen Mann Heinz (André Marcon) hat diese Strenge etwas Abweisendes. Während sie in ihrer Jugend für drei Jahre Stalinistin war, bevor die Lektüre von Solschenizyn sie davon kurierte, ließ Heinz 1968 nur Kants Credo gelten: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Er hört Schumann und Brahms und liest Schopenhauer. Seine Aphorismen zur Lebensweisheit werden auf die Probe gestellt, als Heinz seiner Frau eröffnet, sie für eine Geliebte verlassen zu wollen. Nathalie: „Hättest du es nicht für dich behalten können?“

Sie trifft die Neuigkeit inmitten unerfreulicher Zuspitzungen. Ihr Verlag komplimentiert sie stückweise heraus. Ihr Stil sei zu fordernd und streng. Die Marketingleute wollen ihre Lehrbücher attraktiver machen. Deren Inhalt soll „menschlicher“ werden, das Layout „modern, aggressiv und auffällig“.

Während Nathalie auf der einen Seite prinzipientreu ist, wird sie auf der anderen dickköpfig. Da vertreibt sie sich selbst ohne Not aus dem bretonischen Ferienparadies, dem Häuschen der Familie ihres Mannes. Zur letzten Fahrt dahin knödelt Dietrich Fischer-Dieskau nach Franz Schubert „Es säuselt der Kalmus im rötlichen Schein ...“ Um Empfang für ein Telefonat mit ihrer tyrannisch-selbstverliebten Mutter (Edith Scob) zu bekommen, stapft sie durch das Watt. Eine von vielen Metaphern, die nicht zu aufdringlich sind.

Das Rückgrat des Films zeigt eine leichte Skoliose, aber die Kleidung verdeckt diese auf vorteilhafte Weise. Die Fotografie ist schön, jedes Detail der Ausstattung wurde mit Bedacht gewählt. Als die Mutter in ein Altersheim kommt, wird im Vorübergehen mit visueller Grausamkeit gezeigt, wie der Troddelsaum eines gewirkten Lampenschirms im Wind weht. Jenen Geruch des Todes, den Nathalie in der exklusiven Wohnstätte wahrgenommen haben will, spüren wir dadurch auch. Es gibt kein zufälliges Accessoire. Eines Tages hat Heinz seine Bücher abgeholt. „Die Welt als Wille und Vorstellung“ konnte er nicht finden, dafür hat er bändeweise Levinas und Buber von seiner Frau mitgenommen. Die Bücherregale sind die Nervensysteme der intellektuellen Kreaturen.

Quälend wird die Beziehung der Philosophielehrerin zu einem ehemaligen Schüler (Roman Kolinka). Als der die fette schwarze Katze ihrer Mutter an seiner Alpenhütte auswildert, steht Nathalie noch in der Nacht und ruft mit Leckerbissen klappernd nach Pandora. Die kommt dann morgens aufs Zimmer, um ihr die erste eigene Jagdbeute in den Schuh zu legen.

Die Bilder sind fein beobachtet, werden aber nie hämisch. Bemerkenswert an dem Film ist auch, wie diskret die Affäre des Mannes vor dem Zuschauer verborgen bleibt. Nur einmal sehen wir ihn mit der Geliebten durch die Augen Nathalies in der Vorbeifahrt durch das Fenster eines Omnibusses. Die Regisseurin rühmt die Aura von Zerbrechlichkeit an ihrer Hauptdarstellerin. Doch zerbrechlich ist nicht allein das Feine und Kostbare. Zerbrechlich kann ebenso das Verbrauchte und das Minderwertige sein. Ihr intellektueller Hochmut läßt sie den Ehemann mit einer Bande junger Akademiker und das Haus in der Bretagne mit einer Gebirgshütte vertauschen. Statt erlesener Weine gibt es nun Marihuana-Zigaretten. Deplaziert sitzt sie unter dem jungen Volk am Kamin und liest Vladimir Jankélévitchs Buch über den Tod.

Europäische Filme haben ihre nationalen Codierungen. Der deutsche Zuschauer sieht möglicherweise etwas völlig anderes als das französische Publikum. Hansen-Løve beschreibt ihre Intention: „Der Mangel des Kinos an Darstellungen von Intellektuellen und die Entwicklung von Ideen hat mich dazu getrieben, einen Film über eine Philosophielehrerin zu machen, die von ihrem Job besessen ist.“ Entstanden ist zugleich ein Film darüber, wie die ganz Gescheiten ihre Geisteskraft verwenden, um sich zuletzt selbst zu überlisten.

Mit einem Silbernen Bären der diesjährigen Berlinale ausgezeichnet, hängt „L’Avenir“ auf eigenartige Weise zwischen dem gewöhnlichen Genrekino französischer Machart und der spröden moralischen Rigorosität eines Eric Rohmer. Die hybride Anmutung könnte vom Schielen nach dem Erfolg herrühren oder aber einfach ein Zeichen dafür sein, daß Merkmale der Filmavantgarde der siebziger Jahre inzwischen den Mainstream bestimmen. In seinem nur scheinbar offenen Ausgang liegt vielleicht der raffinierteste Kunstgriff von „Alles was kommt“.