© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/16 / 19. August 2016

Auch Konfuzius blieb nicht verschont
Chinesische Kulturrevolution: Vor fünfzig Jahren zerstörten die Roten Garden Tausende religiöser Stätten
Wolfgang Kaufmann

Mit dem von Mao Zedong initiierten „Großen Sprung nach vorn“ wollte  China zwischen 1958 und 1961 zu den westlichen Industrieländern aufschließen. Doch nach dem Totalfiasko der Kampagne, die 45 Millionen Chinesen das Leben kostete, hatte der „Große Vorsitzende“ deutlich an Macht eingebüßt. Deshalb versuchte Mao, seine innerparteilichen Widersacher wie Liu Shaoqi und Deng Xiaoping auszuschalten, indem er ihnen vorwarf, einen „revisionistischen“ beziehungsweise „kapitalistischen“ Weg einschlagen zu wollen. Darüber hinaus war er bestrebt, das zu unterminieren, was der Gegenseite irgendwie moralischen Rückhalt verlieh.

So entfachte Mao die Kampagne „Zerschlagt die Vier Alten!“, die im August 1966 begann und sich gegen alte Denkweisen, alte Sitten, alte Gewohnheiten und die alte Kultur des „Reiches der Mitte“ richtete. Die Ausführenden der hieraus erwachsenden „Proletarischen Kulturrevolution“ sollten die Roten Garden, bestehend aus Schülern und Studenten, sein; von ihnen erwartete Mao am ehesten eine bedenkenlose Bereitschaft zur Zerschlagung alles Traditionellen. Dabei nahm er ganz bewußt „großes Chaos unter dem Himmel“ in Kauf, weil dies die Voraussetzung für den angestrebten Zustand „großer Ordnung“ zu sein schien (JF 20/16).

Zerstörerischer Feldzug gegen das kulturelle Erbe

Tatsächlich erhörte die Jugend des Landes den Ruf und attackierte das Althergebrachte. Manchmal erwuchsen daraus nur Albernheiten, wie die versuchte Einführung einer neuen Zeitrechnung, die statt mit Christi Geburt mit der von Karl Marx begann. Ähnlich lächerlich war die Veränderung der Verkehrsregeln: Da Rot und Links als revolutionär galten, wurde nicht mehr rechts, sondern auf der anderen Fahrbahnseite gefahren, und an den Ampeln startete man nunmehr bei Rot. Dazu kam die kindische Polemik gegen „bourgeoise“ Tätigkeiten von der Art des Schachspielens und Blumenzüchtens sowie die Ächtung von Zoologischen Gärten, weil dort „schädliche Tiere“ Fleisch fressen, das dem Volk als Nahrung dienen könnte.

Die meisten Aktionen der Roten Garden hatten jedoch katastrophale und nachhaltige Folgen für das Land. Nach Schätzungen von chinesischen Historikern wurden Kulturgüter im Wert von rund 800 Milliarden Yuan vernichtet; das entspricht knapp 110 Milliarden Euro.

Oft richtete sich die Zerstörungswut gegen religiöse Stätten, ganz gleich ob buddhistische Tempel oder christliche Kirchen. Insofern kamen Maos juvenile Rollkommandos dem Kulturbruch der IS-Horden und der Taliban – man denke an deren Sprengung der Buddha-Statuen von Bamiyan im März 2001 – um Jahrzehnte zuvor. Unter anderem wüteten die Roten Garden in den 2.345 Höhlennischen von Longmen mit ihren 100.000 Buddha-Figuren sowie auf dem heiligen Berg Emei Shan, wo es damals noch einhundert uralte Tempel gab. Ebenso traf es das legendäre Shaolin-Kloster, dessen Mönche die Kung-fu-Kampfkunst entwickelt hatten.

Auch der Nationalheilige Konfuzius blieb nicht verschont. Erst entweihten die entfesselten Jugendlichen sein Grabmal in Qufu, dann tobten sie sich an der Statue des Philosophen aus; sie wurde auf übelste Weise verstümmelt und anschließend mit Spruchbändern bekleistert.

Mit welcher Intensität der Feldzug gegen das kulturelle Erbe Chinas erfolgte, mag eine Zahl exemplarisch verdeutlichen, denn Gesamtstatistiken existieren leider nicht: In den ersten vierzig Tagen nach Beginn der Kampagne gegen die „Vier Alten“ demolierten die Roten Garden alleine im Großraum Peking 4.922 historische Stätten – ausgenommen jedoch die „Verbotene Stadt“, weil dort die Volksbefreiungsarmee residierte.

Aus dem gleichen Grunde unbehelligt blieb auch der Potala, also der ehemalige Palast des Dalai Lama in Tibet, das seit 1951 unter chinesischer Besatzung stand. Ansonsten scheint es aber so, als ob das „Dach der Welt“ besonders schwer gelitten hätte. Immerhin gab es dort vor der Annexion 2.700 größere Tempel beziehungsweise Klöster mit 114.000 Mönchen sowie 1.600 „Lebenden Buddhas“ – und deren Zahl reduzierte sich dann bis 1976, als das „blutige Jahrzehnt“ schließlich endete, auf gerade einmal acht Klöster, in denen noch 970 Mönche ihr prekäres Dasein fristeten.

Winfried Kretschmann lobte die Kulturrevolution

Allerdings resultierte diese Entwicklung keineswegs nur aus den Exzessen der Roten Garden. Die kommunistischen Invasoren strebten nämlich von Anfang an danach, das lamaistische Tibet „aus seiner Rückständigkeit zu befreien“. Daher ging die Zahl der Klöster schon vor der Kulturrevolution auf 370 zurück. Die heutige chinesische Führung verschleiert also die Wahrheit, wenn sie die Zerstörung der tibetischen Heiligtümer und die Ermordung oder Vertreibung von Mönchen nur den außer Rand und Band geratenen „Revolutionären“ der Jahre von 1966 bis 1976 anlastet – diese versetzten dem alten Tibet lediglich den finalen Todesstoß.  

Mittlerweile haben die Pekinger Oberen realisiert, daß historische Denkmäler Touristen anlocken, die wiederum Devisen ins Land bringen. Deshalb wird nun einige Mühe darauf verwendet, die Spuren der Kulturrevolution in China wie auch in Tibet zu tilgen. Dies geschieht freilich oft auf extrem dilettantische Weise. Manchmal werden sogar Teile ganz verschiedener Tempel zusammengestückelt oder heilige Stätten an profane Plätze verlagert, damit die ausländischen Besucher es „bequemer haben“. Das ist derzeit besonders in der Provinz Shanxi Usus, die einstmals drei Viertel aller Tempelanlagen Chinas beherbergte. Hier zeichnen zumeist abgehalfterte Parteifunktionäre ohne jegliche Sachkenntnis für die brachialen „Restaurierungen“ zuständig.

Wes Geistes Kind Maos Nachfolger sind, zeigt sich aber auch im Umgang mit den über sieben Millionen Opfern der Kulturrevolution: Niemals in den vergangenen fünfzig Jahren gab es offizielle Gedenkveranstaltungen für die Toten. Ebensowenig belasteten die Massakrierten das Gewissen jener Vertreter der europäischen Linken, welche selbst dann noch mit dem Maoismus sympathisierten, als längst bekannt war, welche ungeheuerlichen Verbrechen auf dessen Konto gingen. So lobte ein Student namens Winfried Kretschmann 1972 die Kommunistische Partei Chinas und das Proletariat des „Reiches der Mitte“ für die erfolgreiche Kulturrevolution. Heute ist er Ministerpräsident von Baden-Württemberg.