© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/16 / 19. August 2016

Die Menschheit lebt im „Tollhaus Realität“
Wirtschaftsliteratur: Sahra Wagenknecht und Katja Kipping wollen die Welt vor dem Kapitalismus retten
Oliver Busch

Zwei linke Frauen, beide in der DDR aufgewachsen, zwei antikapitalistische Bücher. Sahra Wagenknecht, seit 2015 Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, und ihre Bundestagskollegin und seit 2012 Parteivorsitzende Katja Kipping legten in diesem Jahr fast gleichzeitig Fundamentalkritiken am „neoliberal“ globalisierten kapitalistischen Wirtschaftssystem vor. Und obwohl die beiden Politikerinnen altersmäßig nur neun Jahre trennen, sind zwei extrem unterschiedliche Bücher entstanden – nicht nur von der Aussage her, sondern vor allem von der Qualität.

Die Philosophin und promovierte Volkswirtin Wagenknecht konzentriert sich handwerklich solide darauf, den real existierenden Kapitalismus an seiner Ideologie von Freiheit und Eigentum, Markt, Wettbewerb und Massenwohlstand zu messen. Sie kann dabei, aufbauend auf dem im Schulunterricht der DDR erworbenen „Marxismus-Leninismus“-Basiswissen, an den nach der Weltfinanzkrise von 2008 vitalisierten Neomarxismus à la Slavoj Žižek anschließen, der inzwischen breite Resonanz in linksliberalen Leitmedien findet.

Insofern gehören die meisten der von ihr geschilderten Krisensymptome heute so selbstverständlich zum Standardrepertoire verjüngter Kapitalismuskritik, daß auch Papst Franziskus fast beiläufig feststellen kann: „Diese Wirtschaft tötet.“ Allerdings findet sich bei der neomarxistischen Konkurrenz weder eine ähnlich stringente und didaktisch geschickte Argumentation noch eine überzeugendere als Wagenknechts Alternative einer scharfen Renationalisierung eines an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit angekommenen „liberalen“ Wirtschafts- und Finanzsystems.

Wagenknecht geht von einem markanten Fakt aus, um zu illustrieren, daß wir im „Tollhaus Realität“ leben: Die reichsten ein Prozent der Weltbevölkerung besitzen im Jahre 2016 mehr als alle anderen auf der Erde lebenden Menschen zusammen. Unter ihnen sind 62 Multimilliardäre, die allein über soviel Vermögen verfügen wie die Hälfte der Menschheit – Fakten, die auch von Kapitalismusapologeten nicht geleugnet, aber völlig anders interpretiert werden.

Finanzblasen, Krisen und sterbende Industrieregionen

Diese Herrschaft der Superreichen, die Welt der inzwischen sogar von Wolfgang Schäuble verächtlich so genannten „Plutokratie“, mit ihrem Zentrum in den USA, formt den Planeten nach ihrem Gesetz. Entsprechend befinde sich die Zivilisation in zahlreichen Weltregionen auf dem Rückzug. Kriege und Bürgerkriege verwandelten Teile Afrikas, Vorder- und Mittelasien in einen „lodernden Brandherd“. Nahezu überall hätten die USA, nicht selten unter EU-Beteiligung, „ihre Hände im Spiel“.

Immer gehe es um Absatzmärkte und Zugang zu Rohstoffen. Umweltverheerungen und die Zerstörung der ohnehin kümmerlichen Existenzgrundlagen der oft zu „Flüchtlingen“ degradierten, vermehrt auch durch Folgen des Klimawandels entwurzelten Menschen des überbevölkerten globalen Südens gehörten zu den Kollateralschäden neoliberaler Ausbeutungspraktiken. Als deren Konsequenz bekämen mittlerweile auch die scheinbaren Wohlstandsinseln Eu­ropa und USA Armut und Arbeitslosigkeit schmerzhaft zu spüren. Die Schere zwischen Armen und Reichen gehe hier stetig auseinander. Das Leben von immer mehr Menschen verschlechtere sich daher, denn die Industriestaaten seien zunehmend geprägt von „Finanzblasen, Wirtschaftskrisen, sterbenden Industrieregionen, verkommenden Wohnghettos, Jobs, von denen man nicht leben kann, Armut im Alter, Unsicherheit“.

Hier beschreibt Wagenknecht keine Probleme des Systems, sondern das System als Problem. Zwangsläufig sei diese Entwicklung aber nicht gewesen. Erst als seit den 1980er Jahren der Sozialstaat zur Disposition stand und die von ihm bewahrte Gemeinwohlorientierung der Wirtschaft durch das Modell „marktkonformer Demokratie“ ersetzt wurde, schlug die Stunde der entfesselten „Schurkenwirtschaft“, des „Raubtierkapitalismus“ (Helmut Schmidt) und der Hedgefonds- und Investmenthaie, die nur 20 Jahre benötigten, um 2008 die Weltwirtschaft tief „in den Abgrund“ (Angela Merkel) blicken zu lassen.

Um die Menschheit vor dieser posthumanen Synthese aus Silicon Valley und Wallstreet zu „retten“, setzt die einstige Leiterin der Kommunistischen Plattform (KPF) nicht mehr auf Klassenkampf und Weltrevolution, sondern auf die dem Kapitalismus immanenten Alternativen, so daß sie mehr als bei Karl Marx geistige Anleihen beim sozialen Unternehmertum Ernst Abbes, beim Ordoliberalismus Walter Euckens und Ludwig Erhards nimmt.

Herzstück ihrer Rettungsideen ist die Beseitigung der Profit für wenige generierenden, von der Realwirtschaft abgekoppelten, maximale soziale Ungerechtigkeit betonierenden Finanzmärkte, die einem „globalen Wettcasino “ glichen. Die Geldversorgung der Wirtschaft gehöre in die Hand gemeinwohlorientierter Institute. Da die globale Freizügigkeit des Kapitals keine Effizienzgewinne brachte, benötige eine gemeinwohlorientierte Geldordnung zudem „strikte Kapitalverkehrskontrollen“ sowie eine Rückabwicklung des Euro, denn diese Gemeinschaftswährung gehorche „neoliberalen Prioritäten“, hebele die nationale Steuer- und Haushaltspolitik aus und „macht Demokratie letztlich unmöglich“. Mit dieser neuen ökonomischen Basis einer Gemeinwohlgesellschaft stellt Wagenknecht nicht weniger als die Systemfrage.

Jungmädchen-Poesie einer 38jährigen Parteichefin

Wie man von ähnlichen Ausgangspunkten der Kapitalismus- und Globalisierungskritik diese Frage knallhart verfehlt und auf wirre Abwege gerät, ist bei Katja Kipping nachzulesen. Die studierte Slawistin und Amerikanistin versteht von Wirtschaft nichts. Sie träumt daher davon, Europas „besserem Morgen“ mit Hilfe der „Geflüchteten“ näher zu rücken, die soziale Gerechtigkeit erzwängen und „uns alle“ die Chance gäben, uns in den „Homo migrans“ zu verwandeln.

Also in jenen entrechteten „flexiblen Menschen“, wie ihn die Einwanderungs-Agitation von Weltbank, Goldman Sachs oder George Soros idealisiert, und dem diese grüne Jungmädchen-Poesie einer 38jährigen so nah ist wie dem Revolutionsromantiker Michail Bakunin, der hoffte, Millionen Unzivilisierte, Elende und Analphabeten, das „Lumpenproletariat“, wie Karl Marx höhnte, würden die übrige Menschheit ins klassenlose Paradies auf Erden führen.

Persönliche Seiten der Autorinnen:

 www.sahra-wagenknecht.de

 www.katja-kipping.de

Sahra Wagenknecht: Reichtum ohne Gier – Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten. Campus-Verlag, Frankfurt 2016, 292 Seiten, gebunden, 19,95 Euro

Katja Kipping: Wer flüchtet schon freiwillig – Die Verantwortung des Westens. Westend-Verlag, Frankfurt 2016, 208 Seiten, broschiert, 16 Euro