© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/16 / 19. August 2016

Angeblich wird niemand gezwungen
Schule: Viele Eltern haben Bedenken gegen die „Sexualpädagogik der Vielfalt“ / Linke Gewerkschafter wittern eine reaktionäre Kampagne
Martin Voigt

Wenn Ann-Marlene Henning Schulen besucht, um mit Teenagern über Sex zu reden, hat sie meist ihr Buch „Make Love“ dabei. Farbige Hochglanzfotos zeigen auf der Hälfte der Seiten Jugendliche beim Sex und die vaginale oder orale Penetration auch in Nahaufnahme. Das Buch richtet sich an Jugendliche und ist Unterrichtslektüre (JF 9/16).

Mitte Juli besuchte Henning die neunte Klasse einer Leipziger Gesamtschule, begleitet vom Fernsehen, denn im ZDF hat sie eine Sendung, die ebenfalls „Make Love“ heißt. „Make Love – Wie lieben Teenager? Was Jungen und Mädchen über Sexualität wissen wollen.“ Die Leipziger Schüler fragten und erzählten vor laufender Kamera.

Hennings Buch wurde diesmal nicht durchgeblättert und Sexspielzeug, wie andere Sexualpädagogen das vorschlagen (JF 47/14), wurde auch nicht verteilt. Aber viele Eltern haben das Gefühl, die Kontrolle darüber zu verlieren, was ihren Kindern im Unterricht zugemutet wird. „Uns erreichen immer mehr Anfragen von Eltern, ob in Sachsen ähnlich wie anderen Bundesländern eine Sexualpädagogik der Vielfalt Einzug halte“, sagte der Pressesprecher der sächsischen AfD, Thomas Hartung, der JF.

Daher habe man an den Landtag eine Anfrage zum Thema „Sexualpraktiken als Schulunterricht“ gestellt. Die Sexualerziehung sei in Sachsen gemäß Schulgesetz eine „fächerübergreifende Aufgabe“, teilte die Staatsregierung mit. Auf Sexualpraktiken könne etwa bei der HIV-Prävention eingegangen werden. Es gebe eine Vielzahl an sexualpädagogischen Medien und Materialien, lautete die Antwort auf die Frage der AfD, ob Schüler im Unterricht mit „Pornographie, Kondomen, Dildos oder anderem Sexspielzeug“ konfrontiert werden. Ihr Einsatz unterliege der Eigenverantwortung des Lehrers und müsse bestimmte Kriterien erfüllen: Pornographisch dürften die Bilder nicht sein. Nur eine „sachlich schematische Darstellung vom Geschlechtsverkehr“ habe eine aufklärende Funktion. Eine Vielzahl von Medien und Materialien gebe es von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und verschiedenen weiteren Verlagen.

Wo hört Aufklärung auf und fängt Anleitung zum Sex an? Die Kapitelüberschriften in „Make Love“ lauten „Faß dich an. Masturbation und Petting“, „Das erste Mal. Und jetzt geht’s los“ oder „Durch die Betten. Technische Feinheiten“.

Widerstand gegen Sexualisierung an Schulen und schwammige Platzhalter wie „pädagogisches Ermessen“ kommt vom Bündnis „Demo für Alle“ (JF 09/16). Die von Familienverbänden getragene Initiative gegen die „Sexualpädagogik der Vielfalt“ und die Gender-Ideologie erreicht immer mehr Eltern und Politiker. 

Identität „jenseits der      Hetero-Norm“ finden

Die Sexualreformer befürchten, daß sich die Schulpforten für sie langsam aber sicher schließen und steuern dagegen. So hat nun die linke Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eine 48 Seiten starke Broschüre herausgegeben, in der sie darlegen, wie sexualpädagogische Ziele das Recht der Eltern auf Erziehung unterlaufen können. „Für eine Pädagogik der Vielfalt: Argumente gegen ultrakonservative, neu-rechte und christlich-fundamentalistische Behauptungen“, so der Titel der Broschüre.

Die Begründung darin lautet: Die Gegner der sexuellen Vielfalt propagierten ein „reaktionäres Frauen- und Familienbild“, denn „Sexualität soll in der Schule ausschließlich im Kontext von Fortpflanzung thematisiert werden“. Außerdem werde der Schwangerschaftsabbruch kriminalisiert und der Frau die Aufgabe der Gebärenden und Mutter zugeschrieben. Die frühkindliche Bildung in öffentlichen Einrichtungen werde als „Fremdbetreuung“ diffamiert und als schädlich für die kindliche Entwicklung abgelehnt. 

Soweit die Milieu-Analyse der GEW. Ihr Fazit: Es werde ein „ultrakonservatives, biologistisches und nationalistisches Familienbild“ propagiert, „das nur Vater, (nicht-erwerbstätige) Mutter und möglichst mehrere Kinder anerkennt“. Nationalistisch sei dies deswegen, weil die deutsche Kleinfamilie zur Keimzelle einer Volksgemeinschaft stilisiert werde.

Der moderne Ganztagsschüler lebe „gemeinsam mit Gleichaltrigen, Verwandten, in der Nachbarschaft, mit Freund_innen der Eltern und mit Familien der eigenen Freund_innen“, schreiben die Autoren. „Wer die Kleinfamilie verabsolutiert, verkennt die Bedeutung dieses sozialen Netzes.“ Stattdessen bieten sie ihre Definition von Familie an: Familie sei da, wo Menschen füreinander sorgen.

Den Autoren geht es nicht um Prävention: Lehrer sollen die Kinder dazu ermutigen, ihre eigene Identität auch „jenseits der Hetero-Norm“ zu finden und voneinander zu lernen. „Natürlich kann in einer vielfältigen Gesellschaft jeder Mensch vorehelich abstinent leben, wenn er oder sie das will. Andererseits müssen auch junge Menschen aus sehr religiösen Familien die Chance auf einen anderen Lebensentwurf haben. Das ist nur möglich, wenn sie Alternativen als lebenswert und gleichwertig kennenlernen und ihre eigene Identität ohne Tabus finden können.“

Die Schule habe das Recht, andere Erziehungsziele zu verfolgen als Eltern, stellen die Autoren fest. Deren Hoffnung auf eine „ungestörte Entwicklung“ sei schon allein „wegen der Dauerpräsenz sexualisierter Darstellungen in den Medien vergebens“. Sie müßten ihren Kindern die Freiheit lassen, ihren eigenen Weg zu finden, heißt es in der GEW-Broschüre. Ihr auf Interaktion beruhendes sexualpädagogisches Angebot beruhe auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. „Niemand wird zu irgend etwas gezwungen.“

Ann-Marlene Henning zwingt nicht. Sie lächelt und fragt die Leipziger Schüler, an welchen Körperstellen ein Mädchen/ein Junge gerne berührt werden möchte. Die Atmosphäre ist sexuell aufgeladen. Ein erregter Neuntkläßler kann kaum an sich halten und führt bei laufender Kamera an einem Mitschüler vor, wo er gerne geküßt wird.

Foto: Männliche und weibliche Figuren, Kondom auf einem Schulheft: Prinzip der Freiwilligkeit