© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/16 / 19. August 2016

Erwin Sellering. Angesichts des AfD-Erfolgs wackelt der Thron des SPD-Landesfürsten
Schach dem König
Christian Schrieber

Erwin Sellering hatte sein Glück im hohen Norden gefunden. Der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern regiert sein Land seit acht Jahren mit ruhiger Hand. Er habe den Schuldenanstieg gestoppt, die Arbeitslosenzahlen halbiert, die Landflucht eingedämmt, betont er in diesen Tagen auf den Marktplätzen des Landes. Doch das wollen viele Wähler nicht hören: Sellerings SPD droht bei der Landtagswahl am 4. September ein historischer Absturz – von stolzen 35 Prozent rutscht die Partei in den Umfragen bedrohlich in Richtung Zwanzig-Prozent-Marke. Für den Familienvater, der ausgedehnte Waldspaziergänge liebt und sich schon mal darüber beschwert, daß die berufliche Termindichte Besuche in seinem geliebten Schachclub verhindert, wäre dies ein Desaster.

Im Oktober wird Sellering 66 Jahre alt, schon länger gibt es Gerüchte, er wolle nach der Hälfte der kommenden Legislaturperiode aufhören. Doch wie bei seiner Passion dem Schach – ehemalige Mitspieler bescheinigen ihm ein Talent für überraschende Züge – teilt er seine Gedanken mit niemandem. Wie groß seine Wut über die Bundespolitik sein muß, offenbarte sich allerdings kürzlich, als er die Bundeskanzlerin ob ihrer Flüchtlingspolitik hart kritisierte. „Sie tut, als kämen die Sorgen nur von Rechtsradikalen und Dummköpfen.“ Und: „Es war und ist ein Riesenfehler, von hoher moralischer Warte so zu tun, als sei diese Politik alternativlos“, polterte der sonst so ruhige Jurist, der am südlichen Zipfel des Ruhrgebiets aufwuchs und in Gelsenkirchen seine berufliche Karriere begann.Nach der Wende nutzte Sellering den Juristenmangel in den neuen Ländern und schaffte es zum vorsitzenden Richter in Greifswald. 1994 trat er der SPD bei, zwei Jahre später war er bereits Mitglied des Landesvorstands. Im Jahr 2000 wurde er Justizminister im Kabinett des populären Landesvaters Harald Ringstorff, dessen Nachfolge er acht Jahre später antrat.

Bundespolitisch trat er selten in Erscheinung, laute Worte waren nie die Sache des Sohns aus konservativ-protestantischem Elternhaus. Sein Vater engagierte sich Jahrzehnte in der Union, und so machte auch Sellering junior nie einen Hehl aus seiner Präferenz für eine rot-schwarze Koalition. Mit seinem CDU-Stellvertreter Innenminister Lorenz Caffier versteht er sich gut – doch ausgerechnet der könnte Sellering im Spätherbst seiner politischen Laufbahn ablösen. Wohl auch deshalb gibt dieser nun den „Seehofer des Nordens“, attackiert nicht nur die Kanzlerin, sondern appelliert auch angesichts des sich abzeichnenden AfD-Erfolgs, besorgte Bürger nicht pauschal in die rechte Ecke zu stellen. 

Der König hat im Schach gerade in der Endphase entscheidende Bedeutung – da kommt ihm eine aktive Rolle zu. Erwin Sellering hat all seine Kraft in diesen letzten Zug gelegt. Dennoch ist es nicht unwahrscheinlich, daß es am Wahlabend heißt: Schachmatt!