© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Zu Unrecht im Giftschrank verschlossen
Tragödie und Hoffnung: Carroll Quigleys mißverstandene Geschichte der Moderne
Robert Rielinger

Fünfzig Jahre nach Erscheinen des Originals und zehn Jahre nach einer deutschen Kurzfassung liegt nun – als „Meisterwerk über die ‘geheime Weltregierung’“ beworben – in vollständiger Übersetzung das Opus magnum des Georgetown-Historikers Carroll Quigley vor. Allerdings dürfte die verschwörungstheoretische Anpreisung durch den Verlag bei manchem „truther“ zu einer enttäuschenden Lektüre führen. 

Einschlägige Details wie eine False- flag-Bombe als Anlaß des Amerikanisch-Spanischen-Krieges 1898, Stimmenkauf bei den Republikanern für McKinley 1895 oder die Dulles-Brüder als Lobbyisten der Morgan-Bank in den fünfziger Jahren bleiben eher schütter über den Text verteilt. Überraschend ist Quigleys  Ambivalenz zwischen dem Nachweis der immensen Macht einer transatlantischen  Gruppe seit Ende des 19. Jahrhunderts – relativierend als „Mythos“ apostrophiert – und seiner Identifikation mit den Akteuren:

„Dieser Mythos enthält, wie alle Fabeln, in der Tat ein bestimmtes Maß an Wahrheit. Es hat, und das seit Generationen, ein internationales anglophiles Netzwerk existiert, das zu einem bestimmten Maß auf die Art und Weise funktionierte, wie dies die radikale Rechte von den Kommunisten glaubte. In der Tat hatte dieses Netzwerk, das wir als die Round-Table-Gruppen identifizieren konnten, keine Scheu, mit den Kommunisten oder anderen Gruppen zusammenzuarbeiten, und hat dies oft getan. Ich kenne die Arbeitsweise dieses Netzwerks, weil ich es über zwanzig Jahre lang untersucht habe und es mir in den frühen 1960er Jahren zwei Jahre lang erlaubt war, seine Unterlagen und geheimen Aufzeichnungen zu studieren. Ich habe keine Abneigung gegen das Netzwerk oder die meisten seiner Ziele und stand ihm und vielen seiner Behörden den größten Teil meines Lebens nahe.“ 

Makrohistorischen Bilanz als verschwörerisch erklärt

Diese seltsame Mischung aus Kritik und Affirmation wird nur deutbar, wenn man Quigleys Konzept werkbiographisch betrachtet. Verstand er sich doch „als Makrohistoriker“, „interessiert an Wandlungsprozessen fortgeschrittener Gesellschaften und insbesondere an methodischen Fragen“. Daher untersucht er im Einführungskapitel die „Westliche Zivilisation in ihrer Umwelt“ unter dem Aspekt makrohistorischer Zyklen in Anlehnung an Vico, Spengler und Toynbee. Er beschreibt Zivilisationszyklen in ihrer basalen Dynamik von Expansion, Krise und Abstieg. Als entscheidende Faktoren dieser Dynamik sieht er Geologie, Geburtenrate, Technik. „Diffusion“ von Gütern, spirituellen Werten und demographischem Druck sei der entscheidende Mechanismus dieser Dynamik. 

Die westliche Zivilisation als „bislang reichste und mächtigste Organisationsform“ schafft zusätzliche Dynamik (sozusagen „Mikrozyklen“) in historischer Folge von Kapitalismusformen: Handels-, Industrie- und Finanz-Kapitalismus vom Mittelalter bis zur Neuzeit.

Der Standortwechsel dieser Kapitalismen führt zu Globalisierung und  Verlagerung wirtschaftlicher Zentren, zuletzt von London nach New York zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Mit dem Übergang vom Industrie- zum Finanzkapitalismus ist für Quigley in den angelsächsischen Zentren auch ein Subjektwechsel verknüpft. Gegenüber den White Anglo-Saxon Protestants aus der Produktionssphäre gewinnen Juden aus der Zirkulationssphäre zunehmend an Einfluß. Diese ethnoreligiöse Kategorisierung des Subjektwechsels erinnert an die unorthodoxe marxistische Soziologie eines Leo Kofler oder Abraham Leon, insbesondere dessen Begriff einer „Volksklasse“. Anklänge an Paretos „Elitenzirkulation“ finden sich ebenfalls in der Beschreibung des wechselvollen Ränkespiels einer keineswegs monolithenen Elite, für die Quigley in der Appeasement-Phase 1938/39 allein vier politische Fraktionen ausmacht.

Die Bilanz der Makro- und Mikrodynamik seit 1945 ist nach Quigley für „den Westen“ dreifach negativ. Die Zurückdrängung Deutschlands seit 1942 war mit der Expansion der asiatisch-sowjetischen Peripherie ins Zentrum erkauft. Westliche „Werte“ (Demokratie etc.) haben sich als nur wenig diffusionsfähig in die Peripherie erwiesen. Eine Umkehrung der demographischen Expansion des Westens mit konflikthaften Rändern und wachsendem demographischem Druck von der Peripherie ins Zentrum hat eingesetzt.

Das Mißverständnis dieser makrohistorischen Bilanz als verschwörerisch, verursacht durch ein „Ostküstenestablishment“, führte zu skandalisierender Vereinnahmung des Textes durch die John Birch Society Ende der sechziger Jahre, Rückzug des Verlages, Raubdrucke und Stigmatisierung Quigleys als „man making Birchers bark“.

Die Bedeutung Quigleys liegt aber gerade nicht in einer ambivalenten Elitendenunziation, sondern in der Reflexion der angeführten basalen Zyklen samt Elitenzirkulation und schließlich einer Ideologiekritik aus abendländisch-katholischer Perspektive. Vor weitem historischem Horizont entfaltet er im Kapitel „Die Vereinigten Staaten und die Krise der Mittelschicht“ makrohistorisch den Entwicklungsgang einer mittelalterlichen Zweiklassen-Gesellschaft aus Adel/Klerus und Bauern mit rudimentärer Mittelklasse (Handwerker, Kaufleute) zu einer mittelstandsgeprägten Mehrklassengesellschaft der Moderne. 

Hierbei sieht er „Mittelklasse“ nicht primär als ökonomisch definiert, sondern als Summe von Milieus, die sich einer bestimmten Arbeitshaltung und sinnstiftenden Weltsicht verpflichtet sehen, wie sie im Mittelalter zuerst von den Bürgern niederländischer und oberitalienischer Städte entwickelt wurden. Arbeitshaltung und Weltsicht fanden erste und weiterhin exemplarische Verkörperung in der Philosophie des Thomas von Aquin mit dem Anspruch einer ausgleichenden „complexio oppositorum“ , von Quigley als „Inclusive Diversity“ übersetzt. 

Die USA der sechziger Jahre sieht er mit Wohlstandsstreuung und Mittelstandsprägung als transepochalen Verwirklichungsversuch der Mittelstandsutopie (Hope), der gleichwohl vom zyklischen Rückfall in den Zwei-Klassen-Modus bedroht ist (Tragedy). Die makrohistorische Bedrohung des Mittelstandes erkennt Quigley wesentlich im zyklischen Wiederaufleben dualistischer theologischer Rudimente, denen gegenüber die katholische Complexio-Tradition verblaßt. 

In fünfundzwanzigjähriger Arbeit und parallel zu Carl Schmitts „Politischer Theologie“, Poppers Plato-Kritik und Voegelins politischer Anti-Gnosis kritisiert Quigley somit eine mani-chäische Tradition von Zoroaster über Augustinus zu den Puritanern als transepochale materielle Gewalt, die die zivilisatorische Leistung der christlich-abendländischen Tradition zu zerstören droht. 

Quigley stellt wesentliche Elemente der christlichen und dualistischen Tradition gegenüber: Böses als Abwesenheit des Guten (privatio) – Böses als eigene Qualität; Mensch als abgestuft gut (Gottes Ebenbild in Näherung) – Mensch als böse (Natur); Selbstdisziplin – äußeres Regime; Erlösung durch Werke – alleiniges Gottesgnadentum; Wahrheit als Interpretation von Erfahrung und Offenbarung – Wahrheit als mechanistische Interpretation der Offenbarung; Konsens – Despotismus.

Wie fruchtbar diese begriffliche Matrix zur Interpretation der Ideologie des transatlantischen Round-Table ist, zeigt eine neuere Studie von Markus Osterrieder zum Kriegsausbruch 1914 („Welt im Umbruch“, 2014) unter ausdrücklichem Bezug auf Quigley. So verstand sich Round-Table als Offenbarung und Wiederkehr von König Artus Tafelrunde, sah das Commonwealth als Gottesreich und unterstützte Woodrow Wilsons „Neuordnung“ nach dem Ersten Weltkrieg als alttestamentarisch legitimiert. 

Schließlich läßt sich der ambivalente Titel des Werkes auch als antizipiertes Fazit eines Gelehrtenlebens lesen, das Quigley später so charakterisierte: „Es dürfte offenbar sein, daß ich meine Arbeit geliebt habe, obwohl ich gegen Ende meines Berufslebens nicht davon überzeugt bin, etwas zustande gebracht zu haben. Glücklicherweise hatte ich einen wunderbaren Vater und eine wunderbare Mutter, und die haben uns beigebracht, daß man nicht gewinnen, sondern nur sein Bestes geben muß. Das macht keinen Unterschied.“

Carroll Quigley: Tragödie und Hoffnung. Eine Geschichte der Welt in unserer Zeit. Kopp Verlag, Rottenburg 2016, gebunden, 1.008 Seiten, 39,95 Euro