© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Kriegserklärung über den Versorgungsweg
Das Lend-Lease-Abkommen der USA mit der Sowjetunion rettete Stalin vor der Niederlage
Wolfgang Kaufmann

Zu Beginn des „Großen Vaterländischen Krieges“ stand die Sowjet-union militärisch und ökonomisch vor dem Kollaps: Immerhin verlor sie bis Ende 1941 nicht nur um die fünf Millionen Soldaten, sondern auch 22.340 Panzer und 17.900 Flugzeuge – also fast neunzig Prozent des Bestandes vom 22. Juni 1941. Dazu kam, daß wesentliche Teile des Zentrums der Schwerindustrie im Donezbecken in den Einflußbereich der Wehrmacht gerieten bzw. spätestens 1942 völlig außerhalb der sowjetischen Kontrolle lagen. 

In dieser Situation war es von höchster psychologischer und strategischer Bedeutung, daß sich die USA am 2. August 1941 offiziell dazu bereit erklärten, die UdSSR in den Kreis der Staaten aufzunehmen, welche vom neuen Leih- und Pachtgesetz (offiziell: An Act to Promote the Defense of the United States, meist aber Lend-Lease Act genannt) profitieren sollten. Dieses Gesetz, das seit dem 11. März 1941 galt, ermächtigte den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, „jeder Nation, deren Verteidigung er für die Vereinigten Staaten für lebenswichtig“ erachte, Waffen zu verkaufen, zu vermieten oder zu schenken, womit Amerika nun seine Neutralitätspolitik aufgab, obwohl das von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wurde.

Lend-Lease-Lieferungen erhielten zunächst Großbritannien und die Staaten des Commonwealth, später kamen dann auch noch China, die Türkei sowie diverse europäische, asiatische, afrikanische und südamerikanische Länder hinzu – und eben die Sowjetunion. Wie dringend diese die US-Hilfe benötigte, zeigte sich bereits während des Moskau-Besuches von Roosevelts Sondergesandtem Harry Lloyd Hopkins Ende Juni 1941, als die Unterhändler Stalins eine hastig zusammengestellte Ad-hoc-Wunschliste vorlegten: Dem „Mutterland der Werktätigen“ fehlte es offensichtlich so ziemlich an allem, vom Kriegsmaterial jedweder Art bis hin zu Militärstiefeln, Feldtelefonen und banalem Stacheldraht.

Unglaubliche Mengen von Rüstungsgütern aller Art

Die Lieferungen begannen im September 1941; als erstes trafen einige Staffeln US-Kampfflugzeuge in der UdSSR ein. Der Transport der Güter, welche Moskau entweder mit Rohstoffen wie Mangan- und Chromerz oder aber mit Gold bezahlte, erfolgte auf vier Wegen: über den Nordpazifik bis Wladiwostok, per Luftbrücke via Alaska ins sibirische Krasnojarsk, über den Atlantik und die Eismeer-Route nach Murmansk und Archangelsk am Weißen Meer sowie quer durch den im August 1941 annektierten Iran unter Nutzung der Eisenbahnlinie vom Hafen Bandar-e Schapur am Persischen Golf nach Bandar-e Pahlawi südlich der aserbaidschanischen Grenze. 

Insgesamt stellten die USA der Sowjetunion bis Mai 1945 folgende Mengen an Kriegsmaterial zur Verfügung: 14.833 Militärflugzeuge, 7.056 Panzer, 501.660 sonstige Ketten- und Radfahrzeuge, 302 U-Boot-Jäger bzw. Torpedoboote, 8.218 Flakgeschütze und 131.633 Maschinengewehre. 

Dazu kamen 4,47 Millionen Tonnen Lebensmittel, 2,6 Millionen Tonnen Flugbenzin und andere Erdölprodukte, 2,5 Millionen Tonnen Stahl und 728.000 Tonnen Nichteisenmetalle, darunter vor allem Aluminium für den Flugzeugbau, 595.000 Tonnen Sprengstoffe sowie Bau- und Werkzeugmaschinen, aber auch Lokomotiven, Güterwaggons, Eisenbahnschienen, Autoreifen (allein 3,7 Millionen Stück), Traktoren, Telefonkabel und sogar Uniformstoff und -knöpfe. 15 Millionen Stiefel rüsteten fast die gesamte Rote Armee aus. 

Dabei ist unter Historikern nach wie vor umstritten, ob die Lend-Lease-Lieferungen an Moskau, die seinerzeit einen Wert von 9,8 Milliarden Dollar (nach heutiger Kaufkraft immerhin 130 Milliarden) hatten, kriegsentscheidende Bedeutung besaßen. Diejenigen, die das verneinen, verweisen darauf, daß der Umfang der US-Hilfe im Vergleich zur Gesamtproduktion der UdSSR von 1941 bis 1945 doch eher gering gewesen sei. Andere hingegen, wie Oleg Budnitzki von der Moskauer High School of Economics, zweifeln die diesbezüglichen Statistiken an und verweisen zudem auf die Qualität des Materials. So habe beispielsweise das Fliegeras Alexander Pokryschkin – der zweiterfolgreichste Kampfpilot der Roten Armee und dreifache Held der Sowjetunion – 48 seiner 59 Luftsiege mit einer amerikanischen Bell P-39 „Airacobra“ errungen.

Doch damit nicht genug: Die US-Lieferungen glichen zudem genau die Defizite aus, welche der UdSSR ansonsten zum tödlichen Verhängnis geworden wären. Zwar kamen nur 15 beziehungsweise 12 Prozent der eingesetzten Flugzeuge und Panzer aus den Vereinigten Staaten, aber dafür fast doppelt so viele Radfahrzeuge wie die Russen während des Krieges herstellten. Ebenso stammten von den 1.981 Lokomotiven und 11.115 Güterwaggons der sowjetischen Eisenbahn nur 92 beziehungsweise 2.000 aus einheimischer Produktion. Das heißt, ohne die Lend-Lease-Lieferungen hätte das Transportsystem in Stalins Riesenreich letztlich keine seiner logistischen Aufgaben erfüllen können.

Und ganz ähnlich sah es auch in anderen kriegswichtigen Bereichen aus: „Uncle Sam“ stellte 58 Prozent des hochoktanigen Benzins bereit, das vor allem seitens der Luftflotte benötigt wurde, und 37 Prozent der Werkzeugmaschinen für die Rüstungsindustrie. Gleichermaßen deckten die Amerikaner den Bedarf der Bevölkerung in der UdSSR an Fleisch und Zucker zu 33 und 46 Prozent ab. Die Bereitstellung von militärischen sowie zivilen Hilfsgütern durch die USA war also unzweifelhaft entscheidend für den Sieg des Roten Imperiums – und bewahrte darüber hinaus zahlreiche Sowjetbürger vor dem Hungertod.