© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Kämpferische Friedensrhetorik
Neuordnung der Welt: Die britisch-amerikanische Atlantikcharta vom August 1941
Karlheinz Weißmann

Am 12. August 1941 trafen sich der US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Winston Churchill an Bord des Schlachtschiffs „HMS Prince of Wales“ vor der Küste Neufundlands. Drei Tage berieten sie unter strengster Geheimhaltung über verschiedene Aspekte der politischen Lage. Themen gab es genug. Das zweite Kriegsjahr ging zu Ende und die Frage der weiteren Unterstützung Großbritanniens durch die USA spielte eine entscheidende Rolle. Trotz formaler Neutralität hatte Washington von Anfang an auf der Seite Londons gestanden. Die Vereinigten Staaten lieferten kriegswichtige Güter im großen Maßstab, und seit der Verabschiedung des Lend-Lease Act mit Großbritannien vom Februar des Jahres war für die Unterstützung auch ein formaler Rahmen geschaffen.

„Vernichtung der Nazityrannei“ als Ziel

Nach Ende der Zusammenkunft, am 14. August, wurde die sogenannte „Atlantikcharta“ veröffentlicht. Es handelte sich dabei um kein völkerrechtlich verbindliches Dokument, sondern um eine Absichtserklärung, in der die gemeinsamen Kriegsziele der beiden Mächte fixiert waren. Ein Sachverhalt, der wegen des Datums von besonderem Interesse ist, da Roosevelt vier Monate vor Kriegseintritt ganz unumwunden zugab, daß es den USA wie Großbritannien um nichts anderes als die „Vernichtung der Nazityrannei“ ging. Keine andere Achsenmacht, weder Italien noch Japan, kamen ausdrücklich im Text vor. Diese Fixierung auf Deutschland entsprach den politischen Präferenzen Churchills wie Roosevelts. Beide hatten ihre politischen Lehrjahre schon vor dem Ersten Weltkrieg absolviert und pflegten ausgesprochen antideutsche Affekte. Seit Mitte der dreißiger Jahre hielt der eine wie der andere einen Konflikt mit dem Reich für unvermeidlich. Roosevelts „Quarantänerede“ von 1937, in der er jedem, der die Ruhe der „westlichen Hemisphäre“ störte, Vergeltungsmaßnahmen androhte, war ein Indiz dafür, genauso wie die Bemühungen Churchills – zu diesem Zeitpunkt ohne Amt – um eine „Grand Alliance“, das heißt ein Bündnis von Großbritannien, den USA und der Sowjetunion, das es erlauben sollte, auf dem Kontinent ein von London kontrolliertes „Gleichgewicht“ zu schaffen.

Dementsprechend hatte Churchill seit dem Juli 1940 daran gearbeitet, Stalin aus dem „widernatürlichen“ Bündnis mit Hitler zu lösen, und nach dem Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjet-union versicherte er Moskau umgehend britischer Unterstützung. In der Atlantikcharta wurde die Sowjetunion allerdings mit keinem Wort erwähnt. Durch den raschen Vormarsch der Wehrmacht nach dem 22. Juni 1941 hatte sie so schwere Schläge hinnehmen müssen, daß man in Washington und in London offenbar nicht mit der Fortexistenz des Systems rechnete, oder mit einer so massiven Schwächung, daß Stalin beim Aufbau einer neuen Weltordnung übergangen werden konnte.

Daß diese Weltordnung einen angelsächsischen Stempel tragen sollte, war dem Text der Atlantikcharta unschwer zu entnehmen. Von der „Freiheit der Meere“ und der Öffnung des Welthandels bis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und der Beseitigung des Krieges als legitimem Mittel der Politik kamen alle Chiffren vor, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zur britischen wie zur amerikanischen Propaganda gehört hatten. 

Diese dienten selbstverständlich auch der Kaschierung konkreter machtpolitischer Absichten. So die ersten drei Punkte, in denen die Rede davon war, daß die beiden Staaten „keinerlei Bereicherung“ anstrebten, „weder in territorialer noch in anderer Beziehung“, weiter: „Sie wünschen keinerlei territoriale Veränderungen, die nicht im Einklang mit den in voller Freiheit ausgedrückten Wünschen der betroffenen Völker stehen.“ Und schließlich: „Sie achten das Recht aller Völker, sich jene Regierungsform zu geben, unter der sie zu leben wünschen. Die souveränen Rechte und autonomen Regierungen aller Völker, die ihrer durch Gewalt beraubt wurden, sollen wiederhergestellt werden.“ Schwerer durchschaubar war schon, daß die Intentionen auch gegeneinander gerichtet sein konnten, wie im Fall des Freihandels, der jetzt im Interesse der USA lag, aber keinesfalls Großbritanniens mit seinem Konzept der Empire-Präferenz.

Goebbels schätzte Charta als „Propagandabluff“ ein

Die Formulierungen der Atlantik-charta erinnerten nicht zufällig an Wilsons „14 Punkte“ und das Versprechen eines „Friedens ohne Sieger und Besiegte“-Köders, den die Alliierten am Ende des Ersten Weltkriegs für die Mittelmächte ausgelegt hatten. Daß man sich noch einmal ähnliche Wirkungen ausrechnete, ist kaum vorstellbar. Selbst ein so vorsichtig urteilender Historiker wie Ian Kershaw meinte, daß Goebbels’ Einschätzung des „Propagandabluffs“ zwar „zynisch, aber nicht ganz zu Unrecht“ getroffen wurde. In das Bild paßt auch, daß die Sowjetunion sich im September 1941 dem Inhalt des Textes anschloß, während die „Anti-Hitler-Koalition“ dann im Januar 1943, als Signale des Wohlwollens gegenüber dem Feind nicht mehr notwendig schienen, auf der Konferenz von Casablanca die „bedingungslose Kapitulation“ zum Kriegsziel erhob. Spätestens da mußte jedem klar sein, daß die Deutschen eben nicht zu „allen Völkern“ zählten, denen es erlaubt sein sollte, „innerhalb ihrer Grenzen in vollkommener Sicherheit zu leben, und (...) ihr Leben frei von Furcht und von Not zu verbringen“.

Churchill hat den faktischen Widerspruch zwischen dem Wortlaut des sechsten Punktes der Atlantikcharta und dem faktischen Vorgehen der Alliierten später mit der Bemerkung abgetan, den Passus habe man nie auf den Feind anwenden wollen. Eine offensichtliche Unwahrheit, wie man die Atlantikcharta überhaupt als exemplarisches Beispiel für den problematischen Stil der Außenpolitik betrachten darf, der sich im 20. Jahrhundert durchgesetzt hat. Die Uno zählt das Dokument trotzdem bis heute zu ihren Gründungstexten. Tatsächlich wurden zwei Monate nach Veröffentlichung der Atlantikcharta erste Schritte eingeleitet, um die Bildung der Vereinten Nationen vorzubereiten. Die berufen sich vor allem auf den ideellen Wert, die „Aufrichtigkeit der Absicht“. Aber gerade an dieser Aufrichtigkeit sind Zweifel geboten, um es zurückhaltend zu formulieren.