© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Wohlstandsverdummung
Unbeirrte und Faktenblinde
Wolfgang Kaufmann

Der Feind befindet sich in unseren Mauern. Gegen unseren eigenen Luxus, unsere eigene Dummheit … müssen wir kämpfen“, forderte der römische Politiker und Philosoph Marcus Tullius Cicero schon im 1. Jahrhundert vor Christi. Und tatsächlich ist das Imperium Romanum dann auch genau an den von Cicero angeführten Faktoren zugrunde gegangen: Der weitverbreitete Wohlstand führte erst zu geistiger Dekadenz und dann zu fatalen Fehlentscheidungen, wie beispielsweise der, die ungesteuerte Einwanderung von Fremdvölkern zuzulassen.

Darin wollen derzeit aber viele Historiker und Sozialwissenschaftler kein Menetekel mehr sehen – ganz im Gegenteil! Inzwischen wird das brutale Ende des Römischen Reiches immer öfter als sanfte „Transformation“ zum Besseren hingestellt, als wäre der Zusammenbruch der Zivilisation in der Phase des Übergangs von der Antike zum frühen Mittelalter ein fröhliches multikulturelles Fest gewesen. Ebenso gilt Wohlstand jetzt nicht mehr als Quelle von Dummheit, sondern von Scharfsinn. Als wissenschaftlicher Beweis hierfür muß der sogenannte Flynn-Effekt herhalten, welcher für die Tatsache steht, daß die mittels des Intelligenzquotienten IQ erfaßte Intelligenz in den westlichen Industriestaaten im Verlaufe des 20. Jahrhunderts kontinuierlich zugenommen hat – in Deutschland ab 1917 um drei IQ-Punkte pro Jahrzehnt.

Allerdings gilt dies nur für die Zeit bis 1995, denn seitdem ging es wieder abwärts mit dem durchschnittlichen IQ, obwohl der Wohlstand im großen und ganzen erhalten blieb oder gar noch wuchs. Davon zeugen neuere Erhebungen in Ländern wie Norwegen, Dänemark, Finnland, Großbritannien und Australien, wobei dieser Trend nach Aussage des führenden deutschen Intelligenzforschers und Präsidenten der Gesellschaft für Gehirntraining Siegfried Lehrl auch in der Bundesrepublik zu beobachten ist. Hierauf aufbauend prognostizieren nun nicht wenige Experten einen allgemeinen Rückgang der Intelligenz in den Industrienationen; die Pessimisten unter ihnen meinen, der mittlere IQ werde im Jahre 2100 um acht Punkte niedriger als heute liegen.

Manche Wissenschaftler sehen die Ursache dieser Entwicklung vor allem darin, daß der Einfluß bekanntermaßen intelligenzförderlicher Faktoren wie einer besseren Ernährung irgendwann ausgereizt sei – dann mache gutes Essen die Menschen nicht mehr schlauer, sondern nur noch dicker, so der Wiener Psychologe Jakob Pietschnig. Andere, darunter Lehrl, argumentieren dahingegen sehr viel weniger politisch korrekt, indem sie ausdrücklich auf den Faktor Migration verweisen, der das geistige Niveau im Westen zunehmend nach unten drücke. Und damit haben sie sicher auch ein ganzes Stück weit recht. Immerhin liegt der mittlere IQ von außereuropäischen Völkern oft signifikant niedriger als der der autochthonen Bevölkerung unseres Kontinents. So diagnostizierte Lehrl 2008, daß der Stand des intellektuellen Potentials der Türken dem der Deutschen des Jahres 1954 entspreche.

Unbeschwert zu konsumieren und „Spaß“ zu haben werde – laut Kliche und Maaz – zumeist als wichtiger empfunden als die Beschäftigung mit Wirtschaft und Politik oder ähnlich „schweren“ Themen, weil die inzwischen viele Menschen überfordere.

Andererseits gibt es jedoch Phänomene, die stutzig machen, weil sie irgendwie nicht ins Bild vom kognitiven Manko in den weniger entwickelten Ländern passen. Zum Beispiel betrug der IQ-Durchschnittswert der Bevölkerung in Kenia vor zwei Jahrzehnten noch 72, womit das Land im weltweiten Vergleich nur Platz 70 einnahm. Danach allerdings stieg der Wert kontinuierlich um manchmal bis zu zwei Punkte pro Jahr – interessanterweise aber eher in den ländlichen Regionen, wo es im Gegensatz zu den Städten oder Touristenzentren keinen signifikanten Wohlstandszuwachs gab. Und damit steht Kenia durchaus nicht allein da, denn ähnliche Beobachtungen wurden auch in anderen Ländern der Dritten Welt gemacht.

Dies deutet darauf hin, daß materielle Verbesserungen tatsächlich nicht automatisch klüger machen und der schnelle Anstieg des IQ in den Industrie­ländern während des 20. Jahrhunderts wohl nur ein kurzfristiger Effekt war, der über die letztendlich dann doch lähmende Wirkung immer luxuriöser werdender Lebensumstände hinwegtäuscht – möglicherweise braucht Wohlstand ja eine gewisse „Einwirkzeit“, bevor seine negativen Folgen für die Intelligenz die positiven übertreffen.

Auf jeden Fall scheint die Entwicklung ab 1995 nun das zu bestätigen, was der Biologe Gerald Crabtree von der Stanford-Universität in Kalifornien schon seit längerem propagiert: Der zivilisatorische Fortschritt, welcher die Akkumulation von Reichtum ermögliche, lasse die Menschheit in der Endkonsequenz eher dümmer statt klüger werden. Dabei begann dieser Abstieg höchstwahrscheinlich schon mit der neolithischen Revolution am Beginn der Jungsteinzeit vor etwa 20.000 Jahren, als es zum Übergang zu Ackerbau und Viehzucht, Vorratshaltung sowie Seßhaftigkeit kam. Derartige Neuerungen bewirkten nämlich nicht nur einen schnell wachsenden Wohlstand, sondern auch, daß Fehlleistungen im Prozeß der Nahrungsbeschaffung jetzt seltener tödliche Folgen für das Individuum oder die Gruppe zeitigten. Das heißt, die meisten Menschen mußten ihr Gehirn nun deutlich weniger beanspruchen, um im Überlebenskampf bestehen zu können, nachdem einige wenige die grundlegenden Erfindungen gemacht hatten, die allen das Leben erleichterten.

Und das ist ja im Prinzip heute nicht anders. Wie viele der Nutzer von Handys, Computern, Autos, Flugzeugen und so weiter wären denn in der Lage, so etwas zu konstruieren? Zumal die Produktion derartiger Dinge eine immense Spezialisierung erfordert, welche ebenfalls negative Folgen nach sich zieht, wie sie der schottische Nationalökonom Adam Smith schon 1776 in seinem epochalen Werk „Der Wohlstand der Nationen“ beschrieb: Mit fortschreitender Arbeitsteilung höre der Mensch auf, seinen Verstand zu trainieren, da er bei der Ausführung von Routinetätigkeiten sehr viel seltener auf Schwierigkeiten stoße, deren Bewältigung Kreativität und geistige Flexibilität erfordern. „So ist es ganz natürlich, daß er (...) so stumpfsinnig und einfältig wird, wie ein menschliches Wesen eben nur werden kann.“

Doch das sind keineswegs die einzigen Schattenseiten des zivilisatorischen Fortschritts. Aufgrund der produzierten Überschüsse entstanden im weiteren Verlauf der Geschichte sowohl eine Bürokratie zur Verwaltung des Reichtums wie auch Oberschichten, die überhaupt nicht mehr produktiv sein mußten. Das führte im ersteren Falle zur Delegation von Aufgaben und damit auch Denkprozessen an einzelne ausgewählte Personen und im letzteren Fall zur Bildung von Gruppen, in denen Abstammung mehr als Leistung zählte, womit mangelnde Intelligenz ebenfalls weniger fatale Konsequenzen hatte.

Heute manifestieren sich die nachlassenden geistigen Fähigkeiten infolge zu großen Wohlstands vor allem innerhalb der jüngeren Generation. Hierzu legte Bernhard Heinzlmaier vom Institut für Jugendkulturforschung in Wien die alarmierendsten Befunde vor: Die in einer komfortablen materiellen Situation nachwachsenden Jahrgänge in den westlichen Industriestaaten seien durch eine „absolute Verblödung“ infolge mangelhafter Reflexions- und Urteilsfähigkeit gekennzeichnet.

Dem pflichteten kürzlich auch der Bildungsexperte Thomas Kliche und der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz bei, wobei sie aber der gesamten Gesellschaft kognitive Defizite unterstellten: Unbeschwert zu konsumieren und „Spaß“ zu haben werde zumeist als sehr viel wichtiger empfunden als die Beschäftigung mit Wirtschaft und Politik oder ähnlich „schweren“ Themen, weil die inzwischen viele Menschen überfordere.

Vielen Deutschen fehlt das Gespür dafür, daß falsche politische Entscheidungen in die Katastrophe führen können. Das gilt insbesondere für die Jüngeren, welche in ihrem Leben weder mit Krieg oder Diktatur konfrontiert gewesen waren.

Und in der Tat: Die Haltung breiter Bevölkerungskreise gegenüber dem Islam und der Masseneinwanderung zeigt deutlich, wie schlecht es um Urteilsfähigkeit und Intelligenz im immer noch wohlhabenden Deutschland bestellt ist. Da wäre zum einen das weitverbreitete Unvermögen, sich kritisch-analytisch mit den Lehren der muslimischen Religion auseinanderzusetzen, was als „Toleranz“ bemäntelt wird; dabei handelt es sich hier sehr viel eher um eine Auswirkung des mangelnden Leseverständnisses, das immer mehr um sich greift. Nicht unerhebliche Teile der Bevölkerung sind mittlerweile außerstande, Informationen in Texten aufzuspüren und die Kernaussagen von Geschriebenem zu begreifen. Deshalb stehen viele dem Koran und dessen doch eigentlich so entlarvenden Suren vollkommen hilflos gegenüber und vertrauen in ihrer „Bequemlichkeitsverblödung“ (Kliche) auf die Aussagen von „Experten“, die in der Regel ihr eigenes Süppchen kochen.

Zum anderen fehlt vielen Deutschen schlicht und einfach das Gespür dafür, daß falsche politische Entscheidungen in die Katastrophe führen können. Das gilt insbesondere für die Jüngeren, welche in ihrem Leben weder mit Krieg oder Diktatur noch mit Hunger und Hyperinflation konfrontiert gewesen waren und auch sonst keine wirkliche Not kennen. Und so werden sie es erst viel zu spät merken, wenn die angesichts des Flüchtlingszustroms propagierte „Willkommenskultur“ zum wirtschaftlich-gesellschaftlichen Harakiri gerät.Es sind gerade eben die Gutsituierten, denen die Klugheit abgeht, welche nötig ist, in einer immer komplexer und härter werdenden Welt zu bestehen: Sie glauben unbeirrt und faktenblind, man könne quasi mit der ganzen Welt teilen, weil die eigenen Ressourcen doch unerschöpflich seien! Für diese Mentalität fand der griechische Philosoph Aristoteles schon im 4. Jahrhundert v. Chr. folgende zutreffende Worte: „Der Genuß des Wohlstands und die vom Frieden begleitete Muße machen die Menschen zu übermütigen Gesellen.“

Dabei hat die törichte Hybris unserer momentan nach wie vor gutversorgten und saturierten Zeitgenossen noch eine weitere negative Facette. Weil ihnen der gravierende Verfall ihrer kognitiven Kompetenzen fast nie bewußt ist, unternehmen sie auch nichts dagegen – was zur Konsequenz hat, daß neben der Intelligenz ebenso der gesellschaftliche Reichtum zu schwinden beginnt. Und hier wird es interessant: Wenn Wohlstand also tatsächlich dumm und unkritisch macht, während prekäre Verhältnisse die Lebenstüchtigkeit und Intelligenz fördern, dann birgt die derzeitige Entwicklung vielleicht die Chance, daß es demnächst mit den geistigen Fähigkeiten wieder bergauf geht.

Die Frage ist nur, wie weit das Niveau vorher absinken muß, ehe die Regression endet. Und welche konkreten Folgen wird der geistige Niedergang in den westlichen Industriestaaten bis dahin noch haben? Wächst das intellektuelle Potential eventuell erst wieder nach der flächendeckenden Verarmung aller oder im Verlauf einer Reconquista, die unsere abendländische Zivilisation ihre sämtlichen materiellen Errungenschaften kosten könnte?






Dr. Wolfgang Kaufmann, Jahrgang 1957, Historiker, lehrte an der Universität Leipzig und ist heute im privaten Bildungssektor tätig. Zuletzt schrieb er auf dem Forum über Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit („Kotau vor der Macht“, JF 44/15).