© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Er war deutscher als alle anderen
Zwischen Vision und Abgrund: Michael Schwalb hat eine gehaltvolle Kurzbiographie des Komponisten Hans Pfitzner vorgelegt
Jens Knorr

Wenn es unter den deutschen Komponisten einen gegeben hat, der immer noch deutscher war als die anderen deutschen alle, so war das Hans Pfitzner. Zeit und Persönlichkeit und Werk scheinen so gar nicht ineinanderzupassen, eines aus dem andern und mit dem dritten so gar nicht restlos zu erklären und alle Widersprüche und Widersprüchlichkeiten so gar nicht sich dialektisch vermitteln zu lassen. Das gilt als tief, also deutsch.

Seit den achtziger Jahren hat sich in Ost wie West einiges in Sachen Pfitzner getan: in der DDR im Vor- und Umfeld der Neuinszenierung seines Hauptwerks „Palestrina“ 1983 an der Staatsoper Berlin, aber auch im Rundfunk, für den Frank Schneider ein politisches Porträt des Komponisten erarbeitete, das von Radio DDR II auch gesendet wurde und überarbeitet 1988 Aufnahme in eine Essay-Sammlung bei Reclam Leipzig fand.

In der Bundesrepublik gaben die Edition des vierten Bands von Pfitzners Schriften, 1987, und der Briefe, 1991, durch Bernhard Adamy neue Impulse, sich diesem „deutsche(n) und nur den Deutschen geläufige(n) Komponist(en)“ (Schneider) auch wissenschaftlich wieder zuzuwenden. Von den Konzertplänen war er ohnehin nie ganz verschwunden. Wer jedoch eine konzise Einführung in Leben und Werk des Komponisten suchte, der hatte sich bis eben mit der rororo-Biographie von Johann Peter Vogel behelfen müssen, die den Erkenntnisstand von 1989 wiedergibt.

Abhilfe schafft eine neue Kurzbiographie, die Michael Schwalb, geboren 1956, Cellist und Redakteur für die kleine und feine Reihe „kleine bayerische biografien“ verfaßt hat, die Thomas Götz im Regensburger Verlag Friedrich Pustet herausgibt. Sie sucht weit Besseres zu leisten, als den Komponisten lediglich „zwischen himmlischer Vision und Abgrund“, wie der opernhafte Untertitel verheißt, zu verorten, nämlich, so Schwalb, die Konturen der Fragmente, in die das Bild des Komponisten zerfalle, „nachzuzeichnen und sie zu einem leidlich einheitlichen Bild zusammenzufügen – das gleichwohl die fortbestehenden Risse nicht übertüncht“.

Die Gliederung des Buchs hält sich an die durch Pfitzners Engagements als Kapellmeister und seine Lehrtätigkeit vorgegebenen Lebensabschnitte. Eingeschoben sind, insgesamt schwächer ausfallend, Kapitel zu den einzelnen Werkgattungen: den Liedern, den Opern und der Chorsinfonik, der Kammermusik, den Solokonzerten und der späten Sinfonik. Kurze Exkurse, graphisch herausgehoben, gelten dem „Urfreund“ Paul Nikolaus Cossmann, Richard Strauss, Bruno Walter, Paul Bekker, Thomas Mann, den Süddeutschen Monatsheften, der Hans-Pfitzner-Gesellschaft, aber auch Pfitzners charakterlichen Eigenheiten, ästhetischen Prämissen, Polemiken und Spiegelfechtereien, seinen – letztlich enttäuschten – Hoffnungen in den Nationalsozialismus.

Den beiden zentralen Daten in Pfitzners Leben räumt Schwalb gebührenden Raum ein, zum einen der Uraufführung des „Palestrina“ 1917, darauf alle Lebenslinien zulaufen, um sich von da an in der weiten und dünnen Zeit zu verlieren, und zum andern der Vertreibung aus Straßburg, dem Ort glücklichen künstlerischen Wirkens, im Jahr 1919 – das Trauma Versailles. Schwalb umreißt Plateaus, von denen aus Pfitzners „disparate Persönlichkeitsstruktur“ mit dem Gang der Weltgeschichte, soweit sie ihn streifte und lädierte, in Beziehung zu setzen wäre. Mit gutem Grund versagt er sich vorschnelle Vermittlungen mit den disparaten Werkkorpora, die durchschaubar zu machen ein Lebensabriß nicht leisten kann, jedoch eine umfassende Biographie zu leisten haben würde. Die freilich steht vor dem hundertjährigen Jubiläum der „Palestrina“-Uraufführung noch aus.

Einige verkürzte Darstellungen, insbesondere der Schriften Pfitzners zu Musik- und Theaterpraxis, mögen wohl auch dem begrenzten Umfang des Buches geschuldet sein. Doch von „enttäuschend wenig Stoff“, die sie „heutigen Kulturinteressierten“ böten, kann nicht die Rede sein. Wie dem Komponisten immer gerade dort, wo er sich am konservativsten geriert, die progressivsten Neuerungen unterlaufen, so kommen dem Pamphletisten revolutionärste Einsichten in reaktionärstem Text.

Fragmente eines Lebens in den Partituren

Die Aufsätze der Sammlung „Werk und Wiedergabe“ von 1929 lassen sich nicht nur als Traktat wider die Eigenmächtigkeiten nachschaffender Künstler gegen das „geschaffene Werk“ lesen, sondern als durchaus ernstzunehmende Reflexionen über die neue Rolle von Interpret und Hörer als Co-Produzenten des Werks, die ihnen im bürgerlichen Konzert- und Theaterbetrieb zugefallen war. Nur einige wenige Male hebt der Biograph den moralischen Zeigefinger, dort nämlich, wo – bei aller kritischen Empathie ansonsten – das Verständnis für Pfitzners unkündbare Freundschaft zu Hans Frank und Treue zur nationalsozialistischen Ideologie über das Ende des Dritten Reiches hinaus nicht mehr hinlangt. 

„Hört auf Hans Pfitzner!“ hieß eine 1938 von Alfred Morgenroth herausgegebene Auswahl von „Kernsätzen deutscher Kunstgesinnung“ aus Pfitzners publizistischem und dichterischem Werk. Wir sollten weniger auf Hans Pfitzner hören, ihn um so fleißiger spielen, denn nur gespielt können seine Partituren preisgeben, was in ihnen beschlossen liegt und wovor sich ihr Schöpfer abzuschließen suchte: Fragmente eines Lebens am Ende einer großen Zeit, die sich zu keinem leidlich einheitlichen Bild fügen wollen.

Michael Schwalb: Hans Pfitzner. Komponist zwischen Vision und Abgrund. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2016, broschiert, 133 Seiten, Abbildungen, 12,95 Euro