© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Späte Schützenhilfe
Libyen: Der Einsatz der US-Luftwaffe gegen den IS findet nicht nur Beifall
Marc Zoellner

Zerschossene Wohnhäuser prägen die Straßenzüge der Innenstadt, von vielen der Krankenhäuser, Schulen und öffentlichen Einrichtungen sind kaum mehr als Ruinen im Wüstensand übriggeblieben: Nirgends zeigen sich die Spuren der Verwüstung, welche der libysche Bürgerkrieg nach sich zieht, deutlicher als in der einst blühenden Hafenmetropole Sirte. 

Knapp 140.000 Einwohner zählte die ölreiche Provinzkapitale, der Geburtsort Muammar al-Gaddafis, noch bei dessen Sturz im Jahr 2011. Mehrere zehntausend von ihnen flohen in den Folgejahren in Richtung Tobruk oder Tripolis – und besonders beim Einmarsch des libyschen Ablegers des Islamischen Staats (IS) Anfang vergangenen Jahres in die eiligst improvisierten Flüchtlingscamps in der Sahara. Wie viele Bewohner Sirte jetzt noch zählt, weiß niemand. Doch allein die Massenmorde an regierungstreuen Stammeskriegern auf den Richtblöcken der IS-Henker kosteten seit 2015 mehrere hundert verbliebene Sirter das Leben.

Sprengfallen schrecken die libyschen Truppen

Sirte ist eine belagerte Stadt. Noch vor gut sechs Monaten träumte der IS hier – auch unter den Eindrücken der immensen Gebietsverluste in Syrien und im Irak – von der Errichtung seiner neuen Hauptstadt. Bis zu viertausend Dschihadisten, schätzten westliche Nachrichtendienste, hatte das Kalifat im unmittelbaren Zentrum Libyens zusammengezogen; neben Libyern und Tuareg auch viele ausländische Kämpfer, Söldner aus Tunesien, dem Tschad und von Boko Haram aus Nordnigeria. Das Gros der Islamisten ist mittlerweile geflohen oder wurden bei Kämpfen getötet. 

Vom einst gefürchteten IS-Heer sind in Sirte kaum tausend Mann übriggeblieben. Mit dem Rücken zum Mittelmeer, eingekesselt von den Soldaten der tripolitanischen Einheitsregierung, bereiten sie sich zur entscheidenden Schlacht vor. Es ist eine Schlacht von hoher politischer Bedeutung und ebenso eine, die Angst unter den libyschen Soldaten hervorruft.„Sie [die IS-Kämpfer] nutzen die verschlagensten und menschenverachtendsten Mittel, um uns zu töten“, berichtete Mohamed Darat, der tripolitanische Truppenkommandeur für die Rückeroberung Sirtes, vergangene Woche Reportern der Washington Post. IS-Anhänger hätten die Straßen der Stadt großflächig vermint, in den Wohnungen Scharfschützen postiert und Selbstmordattentäter abgestellt. Kühlschränke, Brotkörbe, Türscharniere und Babyphone wurden zu Sprengfallen umfunktioniert, die Kommandostellen der Terrorgruppe tief in die Wohngebiete eingegraben. 

Libysche Führung uneins über US-Engagement 

„Wenn wir uns vorwärts bewegen, werden die Sniper wie die Hölle auf uns schießen“, bestätigt Suleiman Shwairf, einer der in Sirte kämpfenden Soldaten. Für die Regierungstruppen ist Sirte eine Todesfalle: Über 400 Gefallene sowie rund 2.000 Verwundete hat die libysche Armee in den vergangenen Monaten allein in den Vororten zu beklagen gehabt. Dank seiner Guerillataktiken kann der IS noch immer rund siebzig Prozent der Stadt halten. 

Überglücklich zeigt sich Tripolis von daher ob seines neuen Verbündeten – der US-amerikanischen Luftwaffe, die seit vorvergangenem Montag verstärkt Angriffe auf die Hafenmetropole fliegt. Eine Schützenhilfe, die allerdings schon etwas eher erwartet wurde.

„Es kommt ein wenig spät“, gesteht Darat im Interview. „Hätten die Amerikaner uns von Beginn an unterstützt, hätten wir viele Leben retten können.“

Das lange Zögern Washingtons, sich erneut in den libyschen Bürgerkrieg einzuschalten, erklärt sich vor allem aus politischen Erwägungen: Denn die militärische Intervention in Sirte erfolgte zwar auf ausdrücklichen Wunsch der tripolitanischen Regierung hin – verbunden mit der Forderung, daß keine ausländischen Bodentruppen zum Einsatz kämen. Doch national wie international stoßen die Luftangriffe durchaus auf Kritik. „Wir werden eine ausländische Intervention nicht akzeptieren“, erklärte Aguila Saleh Issa, der Vorsitzende des in Tobruk tagenden und mit Tripolis konkurrierenden Abgeordnetenrats, vergangene Woche. „Die Entscheidungen der libyschen Einheitsregierung sind ein klarer Verstoß gegen die Verfassung sowie die politischen Vereinbarungen der Vergangenheit.“ 

Ähnlich sieht auch die russische Regierung die Sachlage. Die US-amerikanischen Angriffe „besitzen keine rechtliche Grundlage“, betonte Ivan Molotkov, Moskaus Botschafter in Libyen, gegenüber der Nachrichtenagentur Interfax. „Sie benötigen zuerst eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrats.“„Rußland hat sich immer für die Notwendigkeit eingesetzt, entscheidende Maßnahmen zur Zerstörung des IS zu ergreifen“, pflichtete das russische Außenministerium seinem Abgesandten bei. „Doch immer in strenger Einhaltung internationaler Gesetze.“

Trotz alledem: Die US-amerikanische Intervention sowie die spontane Zusage Italiens, den Kampffliegern ihres Nato-Verbündeten Bodenstützpunkte bereitstellen zu wollen, stimmen zumindest die tripolitanischen Truppen verhalten optimistisch. Besonders in den noch knapp bemessenen Tagen vor der geplanten Erstürmung der IS-Bastionen in Sirte. „Die amerikanische Unterstützung legitimiert unsere Sache“, erzählt der Feldarzt Ahmad Mletan. „Wir fühlen, daß wir nicht mehr allein sind und die internationale Gemeinschaft mit uns steht.“