© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Preußen ist tot, es lebe Preußen!
25 Jahre nach der abermaligen Bestattung Friedrichs des Großen in Potsdam: Das verfemte Preußen existiert fort in der Sphäre des Kulturellen und Geistigen
Eberhard Straub

Während des Aufbruchs in das wiedervereinigte Deutschland hieß es zuweilen, das neue Deutschland werde nun unweigerlich protestantischer und preußischer. Eine ganz schreckliche Vorstellung für gelernte Westdeutsche, die sich das Urteil der vier Siegermächte über diesen Staat – „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“ – vollständig zu eigen gemacht hatten. In den Debatten, die Hauptstadt von Bonn nach Berlin zu verlegen, wurde inbrünstig die deutsche Unheilsgeschichte unter preußischem Einfluß beschworen, der man glücklich entronnen sei in der rheinischen Republik.

Nur eine knappe Mehrheit entschied sich am 20. Juni 1991 im Bundestag, dennoch das verwegene Experiment zu wagen. Die unterlegenen, wehrhaften Bonn-Idylliker sahen sich sofort in ihren Bedenken bestätigt. Denn am 17. August 1991 wurde unter militärischen Ehren der Sarkophag Friedrichs des Großen nach Sanssouci überführt. Dort wollte der König in einer Kammer unter der Terrasse in der Nähe seiner Hunde seine letzte Ruhe finden. Die königliche Familie hatte bislang seinen letzten, sehr eigensinnigen Willen nie bedacht. Helmut Kohl begleitete als Privatmann, nicht als Bundeskanzler, den Prinzen Louis Ferdinand, den Chef des Hauses Hohenzollern, bei diesen Feierlichkeiten. Deutsche Sinnstifter und Orientierungshelfer warnten aufgeregt vor einem neuen „Tag von Potsdam“, empörten sich über gedankenlose Traditionspflege und absolute Geschmacklosigkeit in Anbetracht allen Unheils, dessen Quell Preußen gewesen sei, was nie vergessen werden dürfe.

Märchen von der DDR als rotem Preußen

Davon ließ sich der Koblenzer Verleger Werner Theisen überhaupt nicht beeindrucken. Er warb mit Engelszungen und sämtlichen zeitgemäßen Mitteln dafür, Kaiser Wilhelm I. hoch zu Roß wieder seinen Platz auf dem leeren Sockel des Nationaldenkmals in der Anlage des Deutschen Ecks bei Koblenz zu verschaffen. Das bedeutete, die Bundesflagge vom Sockel zu entfernen, die dort als leises Zeichen des friedlichen, neuen Deutschlands an die Vergeblichkeit des alten, lauten und gescheiterten mahnend erinnern sollte. Die Reiterstatue zu Ehren des Reichsgründers im Krieg von 1870/71 richtete sich seit 1993 wieder gen Westen, gen Frankreich! Was für ein Affront, unvereinbar mit dem europäischen Gedanken und der deutsch-französischen Freundschaft! In Paris künden allerdings die rue d’Ulm mit der Kaderschmiede für Staatsfunktionäre von früheren französischen Triumphen in Deutschland wie der pont Jéna, die Brücke, die zum Eiffelturm führt.

Pariser und Franzosen zeigten sich wegen der Rückkehr des monumentalen Kaisers an den Rhein überhaupt nicht beunruhigt. Sie mischen sich seitdem gerne unter die Koblenzer und Touristen, die das Deutsche Eck nicht als Kriegserklärung auffassen, sondern als Motiv benutzen für ihr musée sentimentale mit Erinnerungen an Reisen, Küsse und Umarmungen. Das damals so heftig umstrittene Denkmal, weil als angeblicher Ausdruck dunkelsten, borussischen Hochmuts die Jugend gefährdend, gehört wegen der romantischen Rheinstrecke mittlerweile zum Weltkulturerbe. Gerade preußische Prinzen und Könige begeisterten sich für die Rheinromantik. Die besten Tage seit dem Untergang des alten Reiches 1806 erlebte Koblenz zwischen 1850 und 1858 als Residenz des späteren Königs und Kaisers Wilhelm und seiner Frau Augusta, die ganz besonders an dieser Stadt hing und „ihr Koblenz“ auch später nicht vernachlässigte.

Zu den seltsamsten Gerüchten über drohende Gefahren, die vom toten und von den Westdeutschen beflissen verscharrten Preußen ausgingen, gehörte damals die Mär von der DDR als „rotem Preußen“. Die DDR enthielt mit ihrem Territorium viel weniger preußischen Besitz als die frühere Bundesrepublik. Die sogenannten jungen Länder, wie Thüringen, Sachsen oder Mecklenburg, bewahrten stets ihre Selbständigkeit und blieben, was sie waren, sehr alte deutsche Staaten. Deutschland konnte über die ehemalige DDR gar nicht Gefahr laufen, preußischer zu werden.

Die Westdeutschen trafen daher sehr bald zu ihrer Überraschung auf ihnen völlig unbekannte und unerwartete Leidenschaften, auf den Patriotismus und das Selbstbewußtsein der Sachsen und Thüringer, die keineswegs im Aufstieg zum Westdeutschen, heraus aus regionalen Niederungen und hinauf auf die Bundesebene, ihre wahre Bestimmung erkennen wollen. Nicht ein schlummerndes preußisches Erbe, vielmehr die pralle Gegenwart der Sachsen und Thüringer in ihrem Staat verwirrt die ahnungslosen Westdeutschen.

Die SED hatte ein ziemlich unverkrampftes Verhältnis bei der Erbepflege zu Preußen und zu Deutschland im Vergleich zu Westdeutschland. Die sozialistische Geschichtsidee verwirft ja nicht die früheren Epochen, sie anerkennt sie als notwendige Entwicklungsphasen mit ihrem eigenen Recht. Insofern konnte Preußen durchaus dazu dienen, den ersten Arbeiter- und Bauernstaat historisch zu legitimieren. Außerdem waren die Klassiker des Sozialismus keine erklärten Antipreußen. Erich Honecker verriet den Sozialismus überhaupt nicht, wenn er das Monument Friedrichs des Großen wieder unter die Linden zurückführte oder sich auf preußische Reformer und Offiziere berief.

Westdeutschland als bewußt antipreußisches „Projekt“ eines preußenfreien Deutschlands geriet in mannigfache Verlegenheiten, denn es durfte wegen West-Berlin nicht vollends auf die preußische Geschichte verzichten. So kam es in Berlin zu der großen Preußenausstellung 1981. Doch es fiel den Westdeutschen sehr schwer, ihr preußisches Erbe anzuerkennen. Nordrhein-Westfalen ist nicht das Ergebnis zielstrebiger Kölner Kurfürsten, sondern es steht in der Tradition der preußischen Rheinprovinz und des preußischen Westfalen. Manche Landschaften am Niederrhein gehörten schon zu Brandenburg, als die dortigen Kurfürsten noch gar nichts von einem möglichen Königreich Preußen wußten.

Die Monarchie als Kostümstück

Immerhin die schlimmsten Befürchtungen während der ersten Jahre im wiedervereinigten Deutschland erwiesen sich bald als Fiktionen. Zumindest das schöne Preußen, soweit in Schlössern und Gärten vorhanden, wurde eifrig gepflegt. Das Schöne gilt postmodernen Ästheten einfach als schön, unbelastet von der übrigen Geschichte. Es ist sich selber selig und darf jedem zum Erlebnis werden. Außerdem ist es ein Wirtschaftsfaktor, denn es schafft Arbeitsplätze und dynamisiert den Tourismus. Das alles hat mit dem historischen Preußen von ehedem nichts zu tun. Unter solchen Voraussetzungen konnte 2012 Friedrich der Große tatsächlich im Neuen Palais zu Potsdam in der Ausstellung „Friederisiko“ als „unser alter Fritz“ gefeiert werden, als schlechtrasierter Hofzwerg, immer kleckernd beim Essen und unachtsam, wenn er Tabak schnupfte.

Von Preußen war dabei nicht viel die Rede, aber vom Alltag eines sonderbaren Junggesellen mit kräftigem Appetit, einem Schandmaul, das er aber auch für freundlichere Zwecke gebrauchte, wenn er auf seiner Flöte blies. Es gab sogar einen Staatsakt zu Ehren dieses gekrönten Kauzes, obwohl er kein Frauenversteher war. Das alles paßte in die neue Bewegung unter Historikern, das Öffentliche vollständig zu privatisieren oder als Inszenierung und Propaganda zu schildern, die das beliebig Individuelle dekorativ verkleiden und die Monarchie zum Kostümstück machen.

Auf diese Art findet Preußen den Anschluß an die historisierende Vergnügungsbranche und kann zum Mitspielereignis bei Stadtteilfesten werden. Es bildet also kein Ärgernis mehr. Es ist so tot wie das Alte Rom, das jedoch spielerisch etwa in Xanten zur Sommerzeit in neuem altrömischem Ambiente als Augenschmaus ins Leben zurückgerufen wird.

Die preußische Geschichte entwickelt sich, vom allgemeinen Publikum kaum beachtet, wissenschaftlich auf ganz anderen Wegen weiter. Es sind vor allem Briten, auch US-Amerikaner, die ein erstaunliches Interesse für Preußen aufbringen – auch für dessen Zwilling Österreich –, das sie früher mit solcher Intensität nur den beiden anderen untergegangenen Kulturen, der griechischen und römischen Antike, zuwandten. Preußen und Österreich und damit einen erheblichen Teil der deutschen Geschichte behandeln sie als ferne Reiche in einem Europa, dem seine Vergangenheiten immer fremder werden.

Die Schüler von Tim Blanning, David Blackbourn, Geoff Eley, Christopher Clark oder Brendan Simms – die Liste ließe sich beliebig erweitern – beschäftigen sich nicht mit den müßigen Fragen, was von Preußen bleibe, was preußische Tugenden oder preußischer Stil meinten. Sie rücken Preußen in eine gemeinsame europäische Geschichte, weitgehend normal, soweit es Normalität in der Geschichte als System mannigfachster Sonderwege überhaupt gibt.

Dieses Preußen ist nicht der Hort der Unfreiheit, der Reaktion, des Absolutismus und des Militarismus. Wie alle übrigen europäischen Staaten hat auch Preußen daran seinen Anteil. Aber preußische Geschichte ist für sie als europäische Geschichte eben auch Freiheitsgeschichte, die Europäer von Vorurteilen emanzipierte und sie mit Gedanken und Poesien, mit Wissenschaften und Glaubenserweckungen umfassend begeisterte.

Diese Historiker könnten auf ihre unaufgeregte Art die Deutschen nicht mit einem anderen, sondern mit dem wahren Preußen vertraut machen in einem ehemaligen gemeinsamen Eu­ropa. Insofern hat das tote Preußen ein beachtliches Nachleben, wie sonst nur das Alte Rom.