© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Kein Grund zur Klage
Zehn Jahre Antidiskriminierungsgesetz: Eine dünne Bilanz wird mit der Forderung nach mehr Kompetenzen für Lobbyisten kaschiert
Christian Vollradt

Mehrfach spricht Christine Lüders vom „Meilenstein“, und der Stolz über das Erreichte ist der Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) durchaus anzusehen. Am Dienstag stellte die ehemalige Lufthansa-Managerin die Evaluation des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) vor, das seit nunmehr zehn Jahren in Kraft ist. Bei seiner Einführung 2006, so Lüders, sei kaum über den Nutzen des Kampfes gegen Diskriminierung gesprochen worden, stattdessen hätten Kritiker – vor allem aus der Wirtschaft – allerlei „Schreckgespenster“ an die Wand gemalt: vom Ende der Vertragsfreiheit bis zur Preisgabe kontinentaleuropäischer Rechtskultur, von Klageflut und Milliardenkosten. 

Nichts von alledem habe sich bewahrheitet, verkündet Lüders. Die Kernbotschaft des Gesetzes sei: „In Deutschland darf niemand diskriminiert werden, weder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters noch der sexuellen Identität.“ Die Deutschen seien diesbezüglich sensibler, wachsamer geworden – und das sei ein Erfolg des Gesetzes.

Ihre Zehn-Jahres-Bilanz hat Lüders aufwendig flankieren lassen; mit einer „Evaluation“ des Antidiskriminierungsgesetzes, mit der das Berliner „Büro für Recht und Wissenschaft“ sowie die Rechtswissenschaftlerin Christiane Brors von der Universität Oldenburg beauftragt wurden. Leiter des „Büros für Recht und Wissenschaft“ ist Alexander Klose, der zugleich Fachreferent für Migrations- und Flüchtlingspolitik der Berliner Fraktion der Grünen ist. Was die drei bei der Vorstellung des Berichts am Dienstag in Berlin an – recht überschaubaren – konkreten Zahlen präsentieren, legt in der Tat den Eindruck nahe, daß da viel Lärm um ziemlich wenig gemacht wurde (oder wird). So haben sich zwischen 2006 und 2016 insgesamt 15.078 Personen mit einem Anliegen an die ADS gewandt. Im Schnitt sind das also 1.500 Menschen pro Jahr – das ist bei etwa 80 Millionen Einwohnern und knapp 43 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland keine Masse. 

Die Mehrzahl der Beschwerden (27,7 Prozent) beziehen sich auf eine Diskriminierung wegen Behinderung, gefolgt vom Merkmal ethnische Herkunft (24 Prozent), Geschlecht (23,7 Prozent) und Alter (19,9 Prozent). Weit dahinter rangieren die Merkmale Religion (5,9 Prozent), sexuelle Identität (5,3 Prozent) und Weltanschauung (0,7 Prozent). 

Nur sechs Prozent derer, die sich diskriminiert fühlen, zögen vor Gericht, so Studienautor Klose. Eine Gesamtzahl der Fallentscheidungen dazu gibt es nicht. Einigermaßen gesichert sei die Zahl von insgesamt etwa 1.400 Urteilen mit Bezug zum AGG, davon stammen die meisten (rund 90 Prozent) von Arbeitsgerichten. Der Anteil von Entscheidungen mit AGG-Bezug vor Arbeitsgerichten hat damit einen Anteil in Höhe von zwei Promill. 

Das dient Lüders und ihren Mitstreitern als Argument gegen alle, die vor einer Klageflut gewarnt hatten. Auf die Idee, daß die überschaubaren Fallzahlen aus zehn Jahren AGG möglicherweise auch gegen den Alarmismus derer spricht, die allerorten Diskriminierungen vermuten, kommt die Bundesbeauftragte mit ihren Mitstreitern nicht. Denn die geringe Zahl rühre auch von den Hürden, die die von Diskriminierung Betroffenen erst einmal zu überwinden hätten. Laut Umfragen habe fast jeder dritte Deutsche in den vergangenen zwei Jahren Diskriminierungserfahrungen gemacht. Für die studierte Pädagogin steht fest, daß es beim AGG Verbesserungsbedarf gibt: „Auch das beste Fahrzeug braucht gelegentlich eine Wartung.“ 

Den Reparaturbedarf sehen die Verfasser des Berichts in mehreren Punkten. Zum einen fordern sie – eher kosmetisch – die Ersetzung des Begriffs „Rasse“ durch „rassistisch“, um zu verdeutlichen, daß es „keine menschlichen Rassen gibt“. Außerdem sollte der Gesetzgeber „deutlich machen, daß der Begriff ‘Geschlecht’ auch Inter* und Trans*Menschen einbezieht“. 

Maßgeblicher sind jedoch die Forderungen nach einer Kompetenzerweiterung der Antidiskriminierungsstellen und -verbände. Sie sollen nach dem Willen der Verfasser ein sogenanntes Verbandsklagerecht zugewiesen bekommen, vergleichbar den Umweltschutzorganisationen. Dadurch müßte nicht mehr der einzelne Betroffene im Rahmen des individuellen Rechtsschutzes klagen, das könnte die entsprechende Lobby übernehmen. Die bekäme dann auch weitreichende Auskunfts- und Beanstandungsrechte, was sicher für eine Zunahme juristischer Auseinandersetzungen sorgen würde. 

Warum das aber so eminent wichtig sei, macht Lüders’ Evaluationsbericht gleich in der Einleitung klar: „Gegen Antidiskriminierungspolitik als Ausdruck einer grundsätzlichen Haltung und politischen Strategie, die auf umfassende gesellschaftliche Teilhabegerechtigkeit setzt, formieren sich gleichzeitig neue politische Widerstände. In Deutschland und europaweit propagieren rechtspopulistische Bewegungen und Parteien die Rückkehr zu einem Ideal sozialer Homogenität. Die politische Rhetorik vom ‘Genderwahn‘ und einer ‘Ideologie des Multikulturalismus‘ produziert und reproduziert dabei Stereotypisierungen und Vorurteile gegenüber marginalisierten Bevölkerungsgruppen.“ 

Wer in solchen Formulierungen übrigens die Diskriminierung einer Weltanschauung wittert, wird enttäuscht, denn da haben die AGG-Optimierer in ihrem Bericht vorgesorgt: „Das befürchtete Problem, daß Vertreter*innen von rassistischen und anderen diskriminierenden Anschauungen sich der neuen Schutzmöglichkeit zu bedienen suchen, läßt sich dadurch lösen, daß politische Auffassungen weiterhin nicht unter den Weltanschauungsbegriff subsumiert werden.“