© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Knapp daneben
Lebenssinn bietet nur der Beruf
Karl Heinzen

Jahrzehntelang glaubte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Interessen der Arbeitnehmer am besten zu vertreten, wenn er nicht nur für höhere Löhne, sondern auch für immer mehr Freizeit stritt. Unermüdlich setzte er alles daran, die Regelarbeitszeit so weit wie möglich zu senken und die Urlaubsansprüche der Beschäftigten auszuweiten. Überstunden erschienen ihm als unmoralisch. Unternehmer, die es wagten, unbezahlte Mehrarbeit zu verlangen, wurden als asoziale Ausbeuter diffamiert.

Jetzt jedoch muß der DGB feststellen, daß sehr vielen Arbeitnehmern all das, was er für begehrenswerte soziale Errungenschaften hielt, ziemlich gleichgültig ist. Jeder dritte Erwerbstätige verzichtet heute freiwillig auf Urlaubstage, die ihm vertraglich eigentlich zustehen. Als besonders generös gegenüber ihrem Arbeitgeber erweisen sich dabei ausgerechnet jene, die an ihrer Arbeitsstelle alles geben, die Überstunden häufen, die ständig abrufbar sind. Von ihnen läßt sogar jeder zweite Urlaubstage verfallen.

Früher hatten Arbeitnehmer noch Kinder, heute wartet daheim jede Menge Unterhaltungselektronik.

Eine solche Hingabe an den Beruf muß Gewerkschaftsdumpfbacken aber ein Rätsel sein. Für sie ist Arbeit eine Ware, die man am Markt verkauft, und, wie das am Markt halt so ist, möchte man möglichst wenig geben und möglichst viel bekommen. Ihr Leitbild ist der Faulenzer, der die Hand aufhält.

Die Wirklichkeit ist aber anders. Immer mehr Menschen erkennen, daß ihnen die Freizeit nichts zu bieten hat, was ihrem Leben einen Sinn geben könnte. Früher hatten Arbeitnehmer noch Kinder, und wenn sie nach Hause gingen, wartete nach dem Schuften im Betrieb die Familienarbeit auf sie. Auf die Arbeitnehmer von heute warten daheim die genauso neurotisierten Lebenspartner und jede Menge Unterhaltungselektronik. Sie verplempern ihr Dasein mit sogenannten Freunden, die der Zufall auf den Lebensweg gespült hat, und lassen sich von der Freizeitindustrie bespaßen. Halt und Erfüllung gibt ihnen nur der Beruf, in dem sie solidarisch mit Kollegen etwas schaffen, das andere Menschen benötigen. Wenn sie nicht auch ein bißchen Geld zum Leben bräuchten, würden sie wahrscheinlich sogar dafür bezahlen, arbeiten zu dürfen.