© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Entschlossener Pragmatismus
Die Tagebücher des NS-Ideologen Rosenberg
Dirk Glaser

Zu den irritierenden Umständen, die das Nürnberger Tribunal gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher begleiteten, gehört auch das Verschwinden von Akten vor und nach dem Prozeß. Erheblich mehr krimininelle Energie als andere „Souvenir“-Jäger unter seinen Kollegen bewies dabei Robert M. W. Kempner, der als Mitarbeiter des US-Anklägers Zugriff auf das gesamte Aktenmaterial hatte. Zeithistorisch interessante Dokumente unterschlug er und verwahrte diese bis zu seinem Tod 1993, ohne daß der vielbeschäftigte Advokat sie als Historiker je ausgewertet hätte. 

Darunter befand sich das Gros der Tagebücher Alfred Rosenbergs, des 1946 in Nürnberg hingerichteten „Chefideologen“ der NSDAP, und, seit Juli 1941, des Reichsministers für die in der Sowjetunion besetzten Territorien. Da Kempners Nachlaß bald in „dunklen Kanälen“ verschwand, konnten US-Behörden Rosenbergs Diarien erst 2013 wieder aufspüren. 

In einer von Jürgen Matthäus (Holocaust Memorial Museum, Washington) und Frank Bajohr (Zentrum für Holocaust-Studien, München) mit instruktiver, umfangreicher Einleitung versehenen, aber nur kümmerlich annotierten Edition erblicken diese zeithistorisch wertvollen Dokumente nun endlich das Licht der Öffentlichkeit. Sie verdient zwar nicht das ihr von einigen eiligen Rezensenten generös verliehene Prädikat „sensationell“, zwingt aber tatsächlich zu erheblichen Korrekturen am hergebrachten Rosenberg-Bild. 

In der Forschung galt der vor der Russischen Revolution geflohene Deutschbalte als höchst aktiver Mitstreiter in der Frühphase der NSDAP, der mit seiner Publizistik zu „Bolschewismus und Judentum“ das Weltbild der Partei geprägt habe, aber sich als weltfremder Dogmatiker nach 1933 in der NS-Polykratie nicht durchsetzen konnte und zur Randfigur geworden sei. Eine Legende, die schon Hildegard Brenners Studie über die NS-Kunstpolitik (1964) widerlegte, die zeigte, wie Rosenberg über den einer moderaten Moderne zugeneigten Joseph Goebbels triumphierte. Die Tagebücher-Edition verstärkt diese Deutung, indem sie den gerade aufgestiegenen „Ostminister“ als Pragmatiker mit „Sachkenntnis, Ideologiefestigkeit und Entschlossenheit“ präsentiert, eine Kombination, die „in der NS-Führungsriege selten“ gewesen sei.  

Jürgen Matthäus, Frank Bajohr (Hrsg.): Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015, gebunden, 650 Seiten, 26,99 Euro