© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Vom schöpferischen Einfluß des Deutschtums in Übersee und seinem Niedergang
Mehr als Hot dog
Elliot Neaman

Der erste Eindruck, den amerikanische Schulkinder von den Deutschen gewinnen, entsteht dann, wenn sie etwas über den schillernden Baron von Steuben erfahren – einen preußischen Offizier, der versetzt und 1778 von George Washington zum Generalinspekteur der Kontinental­armee ernannt worden war.

Als der pedantische und in sich gekehrte Preuße in Amerika eintraf, der so gut wie kein Englisch sprach, befand sich dieses Heer in einem ziemlich chaotischen Zustand. Die Männer besaßen keine anständigen Uniformen, die Feldlager verfügten weder über sanitäre Einrichtungen noch über geregelte Raumaufteilungen. Er gab handschriftliche Exerzierreglements auf französisch heraus, die ins Englische übertragen und eingesetzt wurden, um die zusammengewürfelten Truppen in etwas umzuwandeln, das einer modernen Armee ähnlich sah. Seine Anweisungen für eine ordentliche deutsche Lagerordnung schuf die Vorlage für die amerikanischen Streitkräfte, die viele Jahrzehnte überdauerte.

Bis heute wird von Steuben bei den Septemberparaden in den amerikanischen Städten gefeiert, wohin Deutsche im 18. und 19. Jahrhundert emigriert waren. Die Paraden bieten den Deutschen eine Gelegenheit, zu Musik zu tanzen und viel Bier zu trinken, was sich mit weiteren Festivitäten bis Anfang Oktober fortsetzt. Die Steubenparaden bringen daher widersprüchliche Charakterzüge zum Ausdruck, die in Amerika ein hartnäckiges Stereotyp über die Deutschen begründet haben: einerseits seien sie disziplinierte und ordnungsliebende Menschen, die jedoch andererseits eine durchaus unberechenbare und sprunghafte Seite in ihrer Persönlichkeit hätten.

Stereotypen sind umfassende Verallgemeinerungen über eine gesamte Klasse von Menschen und als solche fast immer zu wenig differenziert, um aussagekräftig zu sein. Doch die Gegenüberstellung von ordentlich/diszipliniert/beherrscht zu ungezügelt/rastlos/streitlustig enthält durchaus einige Körnchen Wahrheit. Die alkoholabstinent lebenden deutschen Methodisten der Great Plains beispielsweise oder die Pennsylvania Dutch (eine falsche Übersetzung der Vokabel „deutsch“, die für amerikanische Ohren wie „dutch“ klingt), wie die Amischen, die Mennoniten, die Herrnhuter Brüdergemeinde und die Hutterer, waren gottesfürchtige, hart arbeitende Farmer, die dem Luxus und dem Tanz entsagten. Deutsche Farmer im Mittelwesten waren eher weniger risiko­freudig, hielten strenge Organisationsreglements aufrecht und stellten sicher, daß ihre Ländereien innerhalb der Familie verblieben, so daß ihre Gemeinschaften auf einen überschaubaren Rahmen begrenzt und in gewisser Weise egalitär waren.

Auf der anderen Seite neigten die Deutschamerikaner dazu, den nord­amerikanischen Moralisten (den „Yankee-Moralisten“) zu mißtrauen, die sie für zu puritanisch hielten. Im 19. Jahrhundert gab es starke Abstinenzbewegungen, die ihren Höhepunkt während der totalen Prohibition in den 1920ern erreichten. Die Deutschamerikaner liebten ihre Biergärten und ihre Feste und betrachteten diejenigen, die Alkohol verbieten wollten, als unmittelbare Angreifer auf ihre Kultur.

Deutschamerikaner wählten stets eher liberalere politische Parteien, und es gab viele Leute, die sozialistische Kandidaten unterstützen. Nach der gescheiterten Revolution von 1848 wurde die amerikanische Arbeiterbewegung entscheidend von deutschen Einwanderern beeinflußt, die die Ideen von Karl Marx und der Gewerkschaften an die Gestade Amerikas brachten. Seit Anfang der Republik waren Deutschamerikaner gegen die Einrichtung der Sklaverei angetreten und blieben bis zum Bürgerkrieg Abolitionisten, das heißt Gegner der Sklaverei. Als sich Ende des 19. Jahrhunderts der Anarchismus ausbreitete, schlossen sich nicht wenige Deutschamerikaner den gewalttätigen Revolutionären an. Nachdem jemand während des bekannten Arbeiterstreiks „Haymarket Riot“ von 1896 eine Bombe auf die Polizei in Chicago geworfen hatte, waren sechs der acht verhafteten und unter Anklage gestellten Anarchisten deutscher Herkunft.

Die Deutschamerikaner waren im 19. Jahrhundert mit Leib und Seele dabei, ihre Kultur zu bewahren, während sie sich gleichzeitig mühelos an die grundlegenden Trends assimilierten. Die meisten deutschen Immigranten waren Protestanten, wobei Lutheraner die Mehrheit ausmachten. Seit den 1820ern flüchteten viele deutsche Juden aus Bayern, Baden-Württemberg und Elsaß-Lothringen vor Verfolgung und siedelten sich an der Ostküste, aber auch in New Orleans, Chicago und San Francisco an. Deutsche Katholiken begannen etwa um dieselbe Zeit zu siedeln, blieben jedoch eine Minderheit. Wolga­deutsche entkamen der Verfolgung durch die russischen Zaren, die sie zur Assimilation zwingen wollten. Sie ließen sich in den Landwirtschaftszonen von Kansas, Nebraska und Nord- und Süd-Dakota nieder.

Die deutschen Einwanderer, die ihre handwerklichen Fähigkeiten, ihr technisches und ihr künstlerisch-musisches Können in städtische Gebiete mitbrachten, spielten eine große Rolle bei der Herausbildung der amerikanischen Alltags- und Hochkultur.

In jeder dieser Regionen gründeten die Deutschamerikaner öffentliche und private Schulen, um ihre Sprache zu erhalten, sie errichteten Kirchen und gründeten die verschiedensten Arten von Vereinen, und sie gaben deutsche Zeitungen heraus – bis Ende des 19. Jahrhunderts mehr als 800, darunter die angesehene New Yorker Staatszeitung sowie in Chicago die Staats-Zeitung von Illinois.

Was viele Menschen für typische amerikanische kulturelle Eigenheiten und Ausdrucksweisen halten, kann nicht vom Einfluß deutscher Emigranten getrennt werden. Der klassische „amerikanische“ Hamburger entstand als einfache Boulette, die von Matrosen eingeführt wurde, die sie in Hamburg gegessen hatten. Hot dogs waren natürlich durch die große Produktvielfalt inspiriert, die deutsche Wursthersteller mit sich nach Amerika brachten. Die amerikanische „Pretzel“ wurde seit etwa 1850 von deutschen Bäckern in Pennsylvania serienmäßig hergestellt.

Amerika ist schon immer ein Land der Erfinder und Denker gewesen. Die deutschen Einwanderer, die ihre handwerklichen Fähigkeiten und ihr technisches Know-how in städtische Gebiete mitbrachten, spielten eine große Rolle bei der Herausbildung derartiger kultureller Gewohnheiten. Deutsche Brauer gründeten die meisten der größten amerikanischen Brauereien.

Die unzähligen Bürgergesellschaften, Clubs und Organisationen, die Tocqueville an der Neuen Welt so bewunderte, wären auf amerikanischem Boden ohne deutschen Einfluß nicht vorangekommen. Die etwa Mitte des 19. Jahrhunderts aufgebauten Turnvereine beispielsweise hatten eine entscheidende Auswirkung auf die Ausbreitung von sowohl Sportligen als auch Bürgerwehren. Fast die Hälfte aller „Turner“ kämpfte im Bürgerkrieg. Die amerikanische Hochkultur wurde von den Deutschen ebenso stark beeinflußt. Die ersten amerikanischen Symphonien, Opern und Musikvereine wurden einzig durch die außergewöhnlichen Begabungen deutscher Musiker und Sänger ermöglicht.

Das goldene Zeitalter dieser fruchtbaren deutsch-amerikanischen Verbindung fand mit dem Ersten Weltkrieg ein abruptes Ende. Die deutschen Kommunen wurden verdächtigt, zu viele Sympathien für den Kaiser und für deutsche Kriegsziele zu haben. Nahezu 50.000 deutsche „Ausländer“ wurden in eine Beobachtungsliste des Justizministeriums aufgenommen, und 1917 kamen 4.000 von ihnen in Haft. Im ganzen Land wurden Deutsche angegriffen oder gelyncht. Orchester feuerten ihre deutschen Dirigenten und ersetzten in ihren Konzertprogrammen Wagner, Beethoven und Mozart durch französische Komponisten. Städte und Gemeinden tauschten ihre deutschen Namen durch patriotische Benennungen aus. Deutschen Schulen wurde untersagt, Deutsch für den Unterricht zu verwenden.

Dann wurde es noch schlimmer. Von den vielen abscheulichen Dingen, die die Nazis taten, um die deutsche Kultur zu zerstören, war eines der schlimmsten, daß sie zwischen 1931 und 1940 Ströme von Menschen ins Exil zwangen. Durch Verfolgung und Terror verlor das Land viele seiner berühmtesten Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler. Etwa 430.000 Deutsche, darunter viele Juden, emigrierten zwischen 1919 und 1933 in die Vereinigten Staaten. Weitere 130.000 verließen Deutschland zwischen 1933 und 1945.

Diejenigen, denen die Einreise gestattet wurde, fanden in Amerika zwar ein vorläufiges Zuhause, doch es wurde ihnen oftmals Mißtrauen und Abneigung entgegengebracht. 1940 wurden 300.000 in Deutschland geborene Einwohner dazu gezwungen, sich bei der US-Bundesregierung zu registrieren. Sie unterlagen Reisebeschränkungen und mußten besondere Personalausweise mit sich führen. Zuweilen wurde ihr Eigentum konfisziert. Ein Gesetz aus dem Jahr 1798, der Alien Enemy Act, wurde herangezogen, um zwischen 1940 und 1948 fast 11.000 deutsche Bürger einzusperren.

Das öffentliche Bild über die Deutschen ist unspezifisch und klischeehaft. Fragt man Amerikaner, was ihnen zu Deutschland einfällt, kommen den meisten Vorstellungen von Bayern in den Sinn, dazu Lederhosen, Bierkrüge und dralle Fräuleins in festlichen Kleidern. 

Deutschamerikaner änderten scharenweise ihre Namen und verheimlichten ihre Volkszugehörigkeit. Dennoch bestand ein Drittel der Streitkräfte, die gegen die Nationalsozialisten kämpften, aus Deutschamerikanern. Nachdem der Krieg zu Ende war, landeten viele heimatvertriebene Deutsche als Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten.

Jahrzehnte vergingen, bevor sich die Deutschamerikaner sicher genug fühlten, um ihre Traditionen festlich zu begehen. 2014 gab es mehr Amerikaner, die sich von ihrer Abstammung her als deutsch identifizieren als mit irgendeiner anderen ethnisch-linguistischen Gruppe – nämlich annähernd 43 Millionen. Und trotzdem ist vieles von dem reichen deutschen Erbe für immer verloren. Nur etwa rund eine Million Amerikaner sprechen zu Hause deutsch. Viele, die sich selbst als jemand mit deutscher Abstammung bezeichnen, haben keine familiären, sprachlichen oder kulturellen Beziehungen mehr zur deutschen Heimat.

Das Bild über die Deutschen und über Deutschland in der Öffentlichkeit ist ebenso unspezifisch wie klischeehaft. Fragt man Amerikaner, was ihnen einfällt, wenn sie „deutsch“ sagen, kommen den meisten wohl Vorstellungen von Bayern in den Sinn, dazu Lederhosen, Bierkrüge und dralle Fräuleins in festlichen Kleidern. Es ist amüsant und bezeichnend zugleich, daß die meisten Amerikaner nicht den Insiderwitz über eines der meistverkauften deutschen Biere verstehen, das als „St. Pauli Girl“ vermarktet wird. Nur wenige wissen, daß das Bier nach dem Rotlichtbezirk in Hamburg benannt ist.

Daß Donald Trump einen deutschen Vorfahren hat, ist bei dem aktuellen Präsidentschaftswahlkampf kaum bekannt und auch nicht wichtig. Außer in einem negativen Sinn. Ein Kolumnist der New York Times, Timothy Egan, kritisierte Trump kürzlich scharf dafür, einen in Indiana geborenen Bundesrichter, der jedoch mexikanischer Abstammung ist, als „nicht kompetent“ bezeichnet zu haben, bei einer Sammelklage im Zusammenhang mit seiner nunmehr nicht mehr bestehenden „Trump University“ zu entscheiden. „Setzt man diesen Maßstab an“, schrieb Egan, „dann ist Trump ein Deutscher mit einem Großvater aus Kallstadt.“

Tatsächlich bestritt Trump früher, deutsche Vorfahren zu haben, und behauptete, daß sein Großvater Schwede war (die mütterliche Linie ist schottisch). Irgendwann gab er seine deutschen Erbanlagen zu und diente sogar 1999 als „Grand Marshall“ bei der Steubenparade in New York.

Trumps ambivalentes Verhalten in bezug auf seine deutsche Abstammung spricht Bände über die von so vielen Deutschamerikanern wahrgenommene gestörte Beziehung zur Vergangenheit. Nur wenige Amerikaner hätten heute ein Problem damit, die Vorzüge eines deutschen Geschirrspülers oder eines deutschen Autos zu preisen (trotz des VW-Skandals), doch darüber hinaus ist die persönliche Beziehung zu Deutschland von Unschlüssigkeit geprägt. Die Deutschen sagen ja über sich selbst, Deutschland sei „ein schwieriges Land“ mit einer sogar noch schwierigeren Vergangenheit. Dieses belastete Verhältnis der Deutschen zu ihrer eigenen Kultur und Geschichte bestätigt sich nicht nur in Europa, sondern auch jenseits des Atlantiks.







Prof. Dr. Elliot Neaman, Jahrgang 1957, lehrt seit 1993 Kultur-, Geistes- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität von San Francisco. In den achtziger Jahren absolvierte er ein Magisterstudium an der Freien Universität Berlin. Seine Magisterarbeit betreute Ernst Nolte.