© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Für das Publikum unsichtbar
DDR-Literaturgeschichte: Viele Autoren und ihre Texte wurden verschwiegen, verfemt, verboten
Thorsten Hinz

Es geht in dem Buch „Gesperrte Ablage“ um einen erweiterten Literaturbegriff, um die Frage, ob zur Literatur nur das gehört, was tatsächlich gedruckt, gesendet, publiziert, gelesen wurde, oder auch das, was für das Publikum unsichtbar blieb, weil es zurückgewiesen, verboten, beschlagnahmt, in Archiven unter Verschluß gehalten wurde. Damit ist deutlich, daß sich es nicht mit den Ausschlußmechanismen des Marktes beschäftigt, sondern mit denen des repressiven Staates. Für die Autoren Ines Geipel (56) und Joachim Walther (72), die Begründer des „Archivs unterdrückter Literatur in der DDR“ (siehe Info-Kasten), liegt die Antwort auf der Hand. Die Eingriffe des Staates in die Literatur der DDR waren so umfassend, daß man ihre Geschichte um das erweitern muß, was die Behörden unterdrückt und verhindert haben.

Führungselite rekrutierte sich aus KZ-Insassen

Eingeleitet wird das Buch mit einem Essay Geipels über den DDR-Mythos Buchenwald, an dessen Erschaffung der 1958 erschienene Roman „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz entscheidend mitgewirkt hat. Apitz’ Buch über die Rettung eines jüdischen Kindes und die Selbstbefreiung des KZ unter kommunistischer Führung wurde ein Welterfolg. Die Dreiheit aus antifaschistischem Widerstand, gelebter Menschlichkeit und kommunistischer Ideologie fand auch im Westen wohlwollende Aufnahme. In der DDR war die Lektüre in den Schulen ein staatsbürgerliches Initiationsritual.

Rückschlüsse auf die Wirklichkeit im Lager läßt der Roman nur bedingt zu. Die SS hatte in Buchenwald eine aus kommunistischen Funktionshäftlingen bestehende Selbstverwaltung installiert. Wie Lutz Niethammer in seinem Buch über die „Roten Kapos“ mitteilt, fiel ihnen dadurch eine Machtstellung zu, die sie dazu nutzten, ihre Parteigänger zu schützen, Feinde oder Abweichler aber dem Tod preiszugeben. Außerdem waren sie gezwungen, bei Tötungsaktionen mit Hand anzulegen.

In der Erstfassung hatte Apitz, ein langjähriger Buchenwald-Häftling, ihre Zwangslage zumindest angedeutet. Doch aus der Endfassung fiel alles heraus, was Mißtöne ins kommunistische Heldenlied gebracht hätte. Die höchsten Stellen des Staates waren in das Lektorat involviert. Ein beträchtlicher Teil der Führungselite der DDR rekrutierte sich nämlich aus ehemaligen Buchenwald-Insassen. Unmittelbar nach der Befreiung hatte die KPD-, dann SED-Führung alles darangesetzt, die KZ-Wirklichkeit zu beschweigen und umzuschreiben.

Die ehemaligen Kapos hatten dennoch Grund zur Furcht, daß ihnen ihre Verstrickung je nach politischer Konjunktur zum Verhängnis werden würde. Der thüringische Innenminister Ernst Busse, der in Buchenwald das Spritzenkommando angeführt hatte, das Häftlinge durch Injektionen umbrachte, starb 1952 im Gulag. Sein Stellvertreter Otto Kipp überlebte und wurde Direktor des VEB Energiekombinat Halle/Saale. Ein anderer wurde Geheimdienstchef in Dresden und blieb das bis 1981, ein weiterer leitete das Büro des DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck.

Es waren also schwer beschädigte, brutalisierte, von Paranoia und  Komplexen geplagte Menschen, die nach 1945 administrative Macht in die Hände bekamen. Ihre Härte gegenüber tatsächlichen und vermeintlichen Feinden erklärt sich auch daraus. Die Verbindung aus hybrider Macht und ideologischem Dogma bildet den politischen Hintergrund der Literaturentwicklung in der DDR. 

Die junge Journalistin Susanne Kerckhoff, eine Halbschwester Wolfgang Harichs, stach unbewußt in ein Wespennest, als sie im Oktober 1949 die KZ-Erinnerungen eines holländischen Kommunisten kritisierte. Kerckhoff, die vor 1945 bereits Romane und Gedichte veröffentlicht hatte, war Feuilleton-Chefin der Berliner Zeitung. Einen Angriff Stephan Hermlins, der seine Karriere auf einen hagiographisch überhöhten Antifaschismus aufbaute, parierte sie noch und stellte klar, daß es ihr ums Prinzip ging. Die Auffassung, daß Antifaschisten unangreifbar sind, sei „unter Marxisten indiskutabel“. Daraufhin wurde sie kaltgestellt. Sie hielt dem Druck nicht lange stand. Im Februar 1950 beging sie Selbstmord.

In Thüringen fand sich – anfangs protegiert und gefördert – ein Ost-Pendant zur „Gruppe 47“ zusammen, junge, vom Krieg gezeichnete Frauen und Männer, die Texte besprachen und nach Worten rangen, um ihr Schicksal darin zu fassen. Schon 1948 gerieten sie ins Visier der Verfolger, die ihnen unter anderem Spionage und Hetze vorwarfen. Mehrere von ihnen wurden verhaftet, starben im Zuchthaus an Tbc oder wurden irgendwann als Gebrochene entlassen. Der Rest der Gruppe wurde auf Kurs gebracht. Darunter findet man Namen, die später als Autoren oder Literaturwissenschaftler in der DDR Bedeutung erlangten wie zum Beispiel Harry Thürk als staatstreuer „Ost-Konsalik“. Nachträglich versteht man besser, warum sie so und nicht anders schrieben.

Die Abfolge zerstörter Karrieren ist beklemmend

Ein wahres Martyrium erlitt die Lyrikerin Edeltraud Eckert, die 1950, zwanzigjährig, mit anderen jungen Leuten festgenommen und von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, weil sie mit der antikommunistischen „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ in West-Berlin in Kontakt stand. Nach einigen Jahren durfte sie aufgrund guter Arbeitsleistung ihre Verse, die sie im Gedächtnis gespeichert hatte, in einem Heft niederschreiben. 1955 gerieten ihre Haare in eine Maschine, wobei die Kopfhaut großflächig abgerissen wurde. Einige Monate später starb sie an Tetanus. Die frühe DDR war in der Tat ein „Archipel der Angst“.

Gewiß unterschied sich die Art der Unterdrückung in den sechziger Jahren und erst recht in den Siebzigern und Achtzigern von der in der Frühzeit. Dennoch, die Abfolge aus zerstörten Karrieren, Bespitzelungen, verweigertem Studium, beschlagnahmten Texten, verhinderten Publikationen, Verhaftungen, Freikäufen durch die Bundesrepublik, die das Buch aufzählt, ist beklemmend bis zum Schluß.

Eine besonders auffällige Erscheinung war die Berliner Bildhauerin und Dichterin Evelyn Kuffel (1935–1978), die, von allen Publikationsmöglichkeiten abgeschnitten, die sukzessive Selbstzerstörung als Protestform einsetzte. Schließlich an Kehlkopfkrebs erkrankt, präsentierte sie sich in der Öffentlichkeit mit den schwarz-violetten Bestrahlungskreuzen im Gesicht – als Todgeweihte.

Eigenwillig war auch die Dichtergruppe „Das Holde Reich“, die sich um den Thüringer Rolf Schilling versammelte. Ihr gehörten Uwe Lammla, heute Inhaber des Arnshaugk-Verlags, und Joachim Werneburg an. Entschieden kehrten sie im Geiste der DDR den Rücken und spiegelten ihre Erfahrungen im Mythos, in der Geschichte und der Geologie. Das „Holde Reich“ war nach Schillings Worten sowohl real als auch abstrakt: „die Goldene Aue zwischen Harz und Kyffhäuser, wo der ganze Palimpsest von deutschem Mythos, Traum und Wahn zum Erbe gehört“. Für Werneburg wurde der Erfurter Domberg zu seiner Akropolis.

Es gibt aus dem Jahr 1938 einen schönen Satz von Anna Seghers über jung gestorbene, zugrundegegangene Dichter in Deutschland, „die an einem Zeit-Bruch zerbrechen, nicht zu klassischer Vollendung kommen“. Bei Christian Heckel, Jahrgang 1959, der sich seit 1990 Radjo Monk nennt, klingt das so: „Als ich später in der Bibel las: bis ins siebte Glied / werden die Sünden der Väter gesühnt von den / Kindern – da wußte ich, daß es ein Scheißjob ist, / Deutscher zu sein.“ 

Ines Geipel und Joachim Walther haben überzeugend Argumente für die Erweiterung und Neufassung der DDR-Literaturgeschichte geliefert. Ihr kluges, materialreiches, bewegendes Buch regt dazu an, sich eingehend mit der zehnbändigen „Verschwiegenen Bibliothek“ zu beschäftigen, die sie von 2005 bis 2009 herausgegeben haben.

Das Drehbuch schrieben Amerikaner und Russen

Läßliche Fehler sollen hier nicht aufgezählt, als einziger Einwand aber die Frage aufgeworfen werden, ob der „Zeit-Bruch“, der die Tragik der unterdrückten Dichter bestimmte, scharf genug herausgearbeitet wurde. Das Buch enthält einen versteckten Hinweis auf ein Defizit: Ein Foto zeigt den amerikanischen Kulturoffizier Melvin J. Lasky auf dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongreß 1947 im Gespräch mit der greisen Ricarda Huch. Im Text jedoch kommt Lasky überhaupt nicht vor, obwohl seine Rede, die scharfe Angriffe gegen die Sowjet-

union enthielt, den Kongreß faktisch zum Scheitern brachte. Die sowjetischen Reaktionen waren nicht minder scharf. Fortan ging ein Ost-West-Riß durch die Versammlung, und die deutschen Schriftsteller waren auf eine Statistenrolle im Kalten Krieg verwiesen, dessen Drehbuch Amerikaner und Russen schrieben.

So gesehen waren Idealisten wie die arme Edeltraud Eckert, die sich mit der von der CIA finanzierten „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ eingelassen hatte  und mit dialektischer Folgerichtigkeit die Brutalität der Sowjets und ihrer SED-Satrapen auf sich zog, vom Weltgetriebe zerriebene Kiesel. Auch das gehört zu ihrer Unterdrückungsgeschichte.





Unterdrückte DDR-Literatur

Das bei der Bundesstiftung Aufarbeitung angesiedelte und von ihr geförderte Archiv unterdrückter Literatur in der DDR erforscht und sammelt die unter der SED-Diktatur verschwiegene, verbotene, verfemte, verfolgte Literatur und macht sie durch Publikationen und Veranstaltungen zugänglich.

 www.bundesstiftung-aufarbeitung.de