© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Pankraz,
das neue Gold und der Sand am Meer

Unter den Schreckensbotschaften der vorigen Woche (Massaker in Nizza, Militärputsch in der Türkei) war auch eine, die eher putzig klang; dabei war sie wahrscheinlich die schrecklichste. „Hilfe, uns geht der Sand aus“, hieß es plötzlich, „der Sand wird knapp und immer knapper!“ Das 3sat-Magazin „makro“ titelte eher romantisch: „Der Sand am Meer – das neue Gold“.

Man sah Bilder von ostafrikanischen Stränden, wo sich soeben noch sonnenhungrige Urlauber  im weißen Sand gekuschelt hatten und wo nun plötzlich riesige Maschinen aus China stehen, die eben diesen schönen Sand erbarmungslos wegbaggern und in bereitstehende Container umladen. Und sie machen dabei keineswegs am Wasser halt, sondern arbeiten sich weit in die offene See hinaus, die Mangroven radikal verschmutzend. Empörte Fischer klagten, daß hier quadratkilometerweise der Meeresboden „entsandet“ und zerstört werde, so daß sich kein einziger Fisch mehr sehen läßt.

Ozeanforscher melden sich zu Wort und bestätigen im kühlsten Wissenschaftsjargon, daß tatsächlich „die Ware Sand“ zur Zeit einen ungeheuren Boom erlebt, immer teurer wird und bereits gewaltige Wirtschaftsströme in Gang gesetzt hat Denn die Weltbevölkerung wachse rapide, und überall finde zudem eine unaufhaltsame Landflucht statt. Die Leute drängen in die großen, speziell an den Küsten emporschießenden Millionenmetropolen, Wohnraum wird gebraucht, Beton wird gebraucht – und unendlich viel Sand wird gebraucht, um den Beton herzustellen.


Pankraz als bautechnischer Laie wunderte sich. Es gibt doch so viele Wüsten auf der Welt, bis oben voll mit Sand, Sand und noch einmal Sand. Und diese Wüsten werden immer größer, „die Wüste wächst“, in Afrika die Sahara und die Namib, in  Asien die Gobi, in Südamerika die Atacama. Wie könne man da von Sandknappheit sprechen? Aber Sand und Sand sind keineswegs dasselbe, mußte er sich belehren lassen. Der Sahara- oder Gobi-Sand ist gar kein richtiger Sand, er ist bloßer Staub, für die Bauindustrie, die Glasindustrie oder die Halbleiterindustrie vollkommen ungeeignet.

Richtiger Sand besteht aus Mineralkörnern von durchschnittlich 0,063 bis maximal zwei Millimetern Größe. Ein Sandkorn ist also größer als die im Staub oder „Schlurf“ identifizierbaren Einzelteile, andererseits aber kleiner als Kies (2 bis 63 Millimeter), und es läßt sich nicht „binden“ wie die übrigen Bestandteile des Erdbodens, bleibt stets es selbst, unter welchen Bedingungen auch immer. Seine mineralische Zusammensetzung kann sehr verschieden sein, doch in jedem Fall muß Quarz dabei sein. Der Quarz ist es, der die Sandkörner zusammenhält und sie gleichzeitig gegen außen bindungslos hält.

Ihr innerer Zusammenhalt bei unverbrüchlicher äußerer Bindungsresistenz ist es auch, der die Sandkörner für die moderne Bauindustrie so wertvoll macht. Und das Vertrackte ist nun, daß diese Sandkörner nicht in Wüsten vorkommen, sondern – fast im Gegenteil – nur in der Nähe von Gewässern, an Meeres- oder Seeufern, an Stränden, wobei es sich auch um erdgeschichtlich ehemalige Strände handeln kann. Sand und Wasser gehören in jedem Fall zusammen. Sand ist durch Dauerpräsenz von Wasser im Laufe unendlich vieler Jahre erodiertes und sedimentiertes Felsgestein.

Theoretisch betrachtet könnte man den von der Bauindustrie so dringend benötigten Sand natürlich auch auf technischem Weg herstellen, indem man Felsen und Kieselsteine so lange zertrümmert und verkleinert, bis man genügend Sandkörner zusammen hat. Praktisch aber ist das völlig unmöglich, wäre reine Sisyphusarbeit. Ungeheure Verkleinerungsapparaturen wären notwendig, die niemand bezahlen kann, und wenn man eines fernen Tages dennoch irgendwo eine kalkulierbare Produktionskapazität erreicht hätte, wäre die sehnsüchtig darauf  wartende Bau- und Halbleiterindustrie längst den Bach hinuntergegangen.


Also bleibt man bei dem jetzt schon eingeschlagenen „sanften“ Sandbeschaffungsweg. Immer mehr schöne Strände und Mangroven werden abgebaut beziehungsweise unheilbar verschmutzt. Die Regierung von Kenia in Ostafrika ist bereits am strengen Kalkulieren: Was bringt mehr ein, der gegenwärtige Strand-, Tauch- und Wellenreiter-Tourismus – oder die Verwandlung der Strände in dröhnendes Industriegelände, mit kilometerlangen Sandbaggern und mit Hafenanlagen, die jeder Poesie entbehren, nur noch von Containerschiffen angelaufen werden, die nichts als Sand transportieren?

Und was wird aus der speziellen Sandpoesie, die es ja auch gibt und die viele Sprachen sogar nicht unwesentlich geprägt hat? Die Metapher „Wie Sand am Meer“ wird ja dann aussterben, da es Sand am Meer realiter gar nicht mehr gibt. Es wird nicht einmal mehr genug Sand geben, um ihn jemandem „in die Augen zu streuen“. Kein Auto wird mehr „Sand im Getriebe“ haben, und die berühmten „Spuren im Sand“ wird auch niemand mehr lesen. Es kann auch nichts mehr „im Sande verlaufen“.

Freilich, die resignierende Redeweise „Alles auf Sand gebaut“ wird wohl erhalten bleiben, sie wird vielleicht sogar noch an Popularität und Kommunikationskraft gewinnen. Denn wenn es so weitergeht, wie die Sandabbauer und Betonierer zur Zeit sich ausrechnen, wird in den übervölkerten Riesenmetropolen der näheren Zukunft sowieso alles aus und auf Sand gebaut sein. Der Sand wird wahrhaftig zu Gold.

Zu befürchten steht, daß dann die Bergpredigt im Neuen Testament (Matthäus 7,26) recht behält, wo – soviel Pankraz zu wissen glaubt – das „Auf-Sand-gebaut“ zum ersten Mal vorkommt. Wer sein Leben, so heißt es, nur an äußeren Gütern, an Gold oder sonstigen Wertgegenständen ausrichtet und „das Wort“, das transzendentale Bedenken und Ernstnehmen ignoriert, der hat „sein Haus auf Sand gebaut“, es wird zusammenbrechen. Dergleichen gilt nicht weniger für Wolkenkratzer, die ja ebenfalls von oben bis unten aus Beton errichtet worden sind.