© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Zusammenarbeit ohne Euro-Zwang
EU-Reform: Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten wäre eine Alternative zum Brexit / Parlamentsvorbehalt?
Dirk Meyer

Nur drei Wochen nach dem Brexit-Votum, bei dem 51,9 Prozent der Briten für den EU-Austritt stimmten, steht das neue Kabinett: Neue Premierministerin ist Theresa May, die für „Remain“ eingetreten war, aber die gegenteilige Volksmeinung akzeptiert. Den neuen Posten des Brexit-Ministers übernimmt David Davis, ein konservativer EU-Gegner und „Leave“-Aktivist. Der 67jährige Tory-Politiker muß nun die Austrittsverhandlungen gemäß Artikel 50 EU-Vertrag (EUV) leiten. Der Abschluß innerhalb der vorgegebenen Zweijahresfrist ist nicht nur zeitlich äußerst eng, sondern auch angesichts der Erfordernis qualifizierter Mehrheiten überaus vage.

Überleben der Eurozone erfordert einen Bundesstaat

Gravierender erscheint jedoch das derzeit erkennbare Desinteresse Großbritanniens an den diskutierten Alternativen: Das Norwegen-Modell mit Aufnahme in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) oder das Schweizer-Modell über sektorale Einzelabkommen (JF 29/16). Beide hätten die Übernahme aller Binnenmarktregeln – also auch den EU-Ausländerzuzug – ohne Mitsprache bei gleichzeitiger Beitragszahlung zur Folge. Schließlich dürfte der Rückfall zum EU-Drittstaat und bloßem Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) nicht im Interesse des – noch – Vereinigten Königreiches sein. Doch gibt es andere Wege?

In dem Briten-Referendum dominierte die Problematik des unbegrenzten EU-Ausländerzuzugs. Das Votum ist allerdings auch eine logische Folge der Krise der Währungsunion. Zwar hat sich Großbritannien – wie auch Dänemark – über eine Ausnahmeregelung der verpflichtenden Teilnahme am Euro entzogen. Jedoch setzt die Einheitswährung eine unionistische Vorgehensweise in Gestalt einer einheitlichen Geld- und einer koordinierten Finanzpolitik der Mitgliedstaaten voraus. Und so rechtfertigte der sozialdemokratische Ex-Außenminister David Owen sein Brexit-Votum: „Die Währungsunion kann nur überleben, wenn sich die Eurozone in einen Bundesstaat verwandelt.“ Diese Entwicklung von einer Staatengemeinschaft hin zu einem Bundesstaat geht – nicht nur – vielen Briten zu weit.

Gerade unter diesem Aspekt erscheint der Vorstoß von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker als verfehlt, der das klare „Leave“-Votum der Engländer und Waliser (Schotten und Nordiren stimmten genauso klar für „Remain“) als Anlaß für ein Ende einer „EU mit multiplen Währungen“ nehmen möchte. Neben dem „Opt-out“ des EU-Nettozahlers Dänemark gibt es offene Ablehnungen einer Einführung des Euro in Schweden, aber auch beim seitens des mit 13,8 Milliarden Euro Netto profitierenden Polen sowie Tschechiens oder Ungarns. Abgesehen von der Nichterfüllung der Konvergenzkriterien würde die Eurozone noch heterogener und damit krisenanfälliger.

Ein geschickter Schachzug des früheren luxemburgischen Regierungschef bleibt sein Vorschlag, der lettische Euro-Währungskommissar und Vizepräsident Valdis Dombrovskis möge die Zuständigkeit des scheidenden britischen Kommissars Jonathan Hill (Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Union der Kapitalmärkte) mit übernehmen. Projekte wie eine EU-weite Einlagensicherung, Eurobonds, eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung und eine eigene Steuerhoheit für die EU lägen dann in einer Hand – alles Projekte einer Kollektivhaftung, der Umverteilung und einer „Harmonisierung von oben“. Zusammen mit den Vorschlägen des „Club Med“ (der EU-Nettozahler Frankreich und Italien sowie der Milliarden-Profiteure Griechenland, Portugal und Spanien) für ein Ende der Sparpolitik käme diese Politik einer weiteren Aufweichung des Euro-Regelwerkes gleich, die die Stabilität der Währung gefährdet und weitere politische Zerwürfnisse zwischen den Mitgliedstaaten heraufbeschwört.

Die nationale Identität der EU-Mitgliedstaaten achten

Seriöser ist hingegen die Initiative der Außenminister Deutschlands und Frankreichs, Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault, beide Staaten als Motor der Integration in Gang zu setzen: Terrorismus, Sicherheit, Verteidigung und Außenpolitik bieten Bereiche der Zusammenarbeit, die europäische Nationalstaaten alleine überfordern könnten. Denkt man diese Vorschläge innerhalb einer Strategie der abgestuften Integration weiter, so würde sich ein Kerneuropa mit weitgehender Zusammenarbeit und eine Randzone mit unterschiedlichen Teilnahmen einzelner Mitgliedstaten herausbilden: ein Europa der zwei Geschwindigkeiten mit einer Zusammenarbeit à la carte.

Ausgangspunkt wären erstens unabdingbare Angelpunkte wie die Binnenmarktregeln, von denen nur in begründeten Fällen einer Überforderung abgewichen werden kann. Um Mißbrauch und Willkür zu unterbinden, hätte die Ingangsetzung von EU-rechtlich fixierten Ausnahmen der EU-Rat mit qualifizierter Mehrheit zu genehmigen.

Konkret würde dieser Mechanismus bei einer Ausnahme Großbritanniens von der Arbeitnehmerfreizügigkeit oder bei Einschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit im Falle von Kapitalflucht italienischer Banken in Gang gesetzt werden können. Zweitens wäre der Eintritt zur Währungsunion grundsätzlich freiwillig. Ein mehrjähriges Verfehlen der Stabilitätsvorgaben würde hingegen ein Euro-Ausscheiden zur Pflicht machen. Damit wäre der Euro als Stabilitätsgemeinschaft gefestigt.

Drittens ist das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzausübungsschranke der EU zu stärken: „Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten“, heißt es schon heute in Artikel 5 des EU-Vertrags (EUV). Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten gelte „der Grundsatz der begrenzten Einzel­ermächtigung“.

So könnte künftig ein Gesetzesvorschlag der Kommission entsprechend den ehemals geplanten Sonderkonditionen für Großbritannien aufgehalten werden, wenn 55 Prozent der nationalen Parlamente innerhalb von zwölf Wochen Bedenken äußern. Zudem sind die ausschließlichen und geteilten Zuständigkeiten der EU (Artikel 2 bis 6 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) hinsichtlich der Bereiche Umwelt-, Sozial-, Verkehrspolitik und Binnenmarkt so auszurichten, daß die „jeweilige nationale Identität“ der Mitgliedstaaten geachtet wird (Artikel 4 Abs. 2 EU-Vertrag).

Dieser scheinbare Rückschritt einer Integration könnte die Basis einer stabilen Gemeinschaft europäischer Staaten werden, die bei unterschiedlichen ökonomischen Potentialen, Präferenzen und gesellschaftlichen Strukturen friedlich-gedeihlich zusammenleben wollen. Der Brexit würde so als Chance genutzt, die letztlich auch Großbritannien einen Verbleib in der EU ermöglichen würde.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ordnungsökonomik an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg. Er ist Autor von Gutachten für die Verfassungsklagen gegen die Griechenlandhilfe und den EFSF-Vertrag sowie des Buches „EURO-Krise: Austritt als Lösung?“ (LIT Verlag 2012).