© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Machtdemonstration um Mitternacht
Gescheiterter Putsch in der Türkei: Deutschland drohen Konflikte
Henning Hoffgaard

Es sind gespenstische Szenen. In fast allen deutschen Großstädten ziehen mitten in der Nacht Hunderte Türken mit Fahnen durch die dunklen Straßen. Ihr Ziel sind die Botschaften und Konsulate des eigenen Landes. „Allahu akbar“ wird skandiert und Solidarität mit dem Türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gefordert. Der wenige Stunden später endgültig gescheiterte Putsch von kleinen Teilen des türkischen Militärs gegen die Regierung in Ankara treibt die in Deutschland lebenden Türken in der Nacht zum vergangenen Sonnabend in Massen zu spontan angemeldeten Demonstrationen. 3.000 Erdogan-Anhänger zählte die Berliner Polizei vor der türkischen Botschaft, 2.400 kommen in Stuttgart und Karlsruhe zusammen, bis zu 5.000 in Essen. Auch in Hamburg (1.500) und Bremen (450) sind die Kundgebungen schnell organisiert. 

Obwohl es friedlich bleibt, sind die Versammlungen eine Machtdemonstration. In einigen Städten wirkt die Polizei überfordert. In der Hauptstadt wird der aggressiven Menge ein Polizeimegaphon ausgehändigt (siehe Foto), durch das ein Teilnehmer in türkischer Sprache zu den Demonstranten spricht. Was er sagt, bleibt den anwesenden Polizisten mangels Sprachkenntnissen verborgen. Die Pressestelle der Berliner Polizei ließ eine Anfrage der JUNGEN FREIHEIT, warum der Menge ein Megaphon ausgehändigt wurde, bis Redaktionsschluß unbeantwortet.  

Die in Deutschland lebenden Türken gelten im europäischen Vergleich als besonders erdogantreu. 59,7 Prozent erhielt die Partei des Staatschefs 2015 bei den Parlamentswahlen. In keinem anderen europäischen Land wählten Türken die AKP häufiger. In der Türkei kam die Partei auf 49,5 Prozent. Allerdings leben auch viele Kurden in der Bundesrepublik. Das Konfliktpotential ist deswegen seit Jahren hoch. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Kurden und rechtsextremen Anhängern der Grauen Wölfe. Die Türkische Gemeinde (TGD) stellte sich wenig überraschend hinter Erdogan, warnt jedoch auch vor einer Überreaktion: „Die Vermeidung einer weiteren Spaltung sollte auch mit Blick auf die türkeistämmige Community in Deutschland handlungsleitend bleiben.“ Demonstrationen dürften nicht zu „Straßenschlachten“ ausarten. Die Äußerungen zeigen, wie schnell die Situation eskalieren kann. 

In den Tagen nach dem gescheiterten Putsch rollte über türkischstämmige Kritiker des Erdogan-Regimes eine Welle des Hasses hinweg. Morddrohungen inklusive. Besonders im Visier sehen sich die in Deutschland lebenden Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen, dem Ankara vorwirft, hinter dem Umsturzversuch zu stehen. Seine Hizmet-Bewegung wird hierzulande von der „Stiftung Dialog und Bildung“ vertreten. 

Gülen-Anhänger          warnen vor Pogromen

Geschäftsführer Ercan Karakoyun teilte mit: „Die schlechteste Demokratie ist besser als jeder Putsch.“ Geholfen hat ihm die Distanzierung nicht. Jugendtreffs werden bedroht, in einigen türkischen Geschäften hängen Schilder mit der Aufschrift „Kein Zutritt für Gülen-Anhänger“. Karakoyun erkennt die drohende Gefahr: „Das sind beängstigende Aufrufe zu teilweise pogromähnlichen Taten. Es ist erschreckend, daß diese von Menschen kommen, die hier Freiheiten genießen, die sie in der Türkei nicht hätten.“

Die nackten Zahlen zeigen, was in Deutschland droht, wenn die Lage in der Türkei weiter eskaliert. Mehr als drei Millionen Türken, mit oder ohne deutschen Paß, leben in der Bundesrepublik. Darunter 600.000 bis 800.000 Kurden und etwa 150.000 Gülen-Anhänger. Oft braucht es nur einen Zündfunken und schon randalieren Hunderte. Wie zuletzt in Stuttgart, als eine völlig unbekannte türkisch-nationalistische Gruppierung im April mit einem „Friedensmarsch“ Kurden provozierte. Das Ergebnis: 50 verletzte Polizisten. Auch damals waren innerhalb weniger Stunden mehr als 1.000 verfeindete Kurden und Türken zusammengeströmt.