© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

Pankraz,
die CSD-Demo und die Angeklagten

Voriges Wochenende in München ging es wieder los: die erste große Christopher-Street-Day-Demo dieses Sommers tobte durch die Straßen der Stadt. Nach Medienberichten waren über 100.000 Teilnehmer unterwegs, teils als aktive Festwagenfahrer, teils als Zuschauer. Selbstverständlich gaben sich auch die beiden Bürgermeister von SPD und CSU die Ehre, schließlich gilt der CSD hierzulande mittlerweile als ein hochoffizielles Ereignis, das die Politik nicht ignorieren darf und will. 

Zur selben Zeit wurde im Berliner Bundestag unter dem Motto „Nein heißt Nein“ ein Gesetz zur Verschärfung des Sexualstrafrechts verabschiedet. Danach macht sich nicht nur strafbar, wer Sex mit Gewalt oder Gewaltandrohung erzwingt; es reicht vielmehr aus, wenn sich der Täter über den „erkennbaren Willen“ des Opfers hinwegsetzt. Jede Form spontaner körperlicher Zärtlichkeit, jedes Streicheln oder Begrapschen ist künftig verboten; man muß immer erst fragen, und jedes „Nein“, auch wenn es – was oft vorkommt – ein halbes „Ja“ oder ein „Vielleicht“  ist, muß strengstens respektiert werden.

Es lohnt sich, die beiden Parallelereignisse, CSD und Nein-heiß-Nein-Gesetz, einmal ineinander zu spiegeln. Der Christopher Street Day, benannt nach dem Ort der ersten öffentlichen Schwulen-Großdemo in New York am 28. Juni 1969, ist ja stets ein äußerst wildes, alle Gesetze oder Tabus strikt leugnendes Ereignis. Totale sexuelle Freizügigkeit und Öffentlichkeit werden ausgerufen und vorgezeigt. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transsexuelle und sogenannte (sich selbst so nennende) Asexuelle stellen sich regelrecht aus, betatschen und begrapschen sich offen gegenseitig.


Alle fordern dabei lauthals ihr „natürliches Recht“, doch nach allgemeinem Recht und Gesetz fragt niemand. Aber währenddessen legen, wie man in juristischen Fachorganen lesen kann, zumindest in den USA immer mehr Männer ihrer Partnerin bei jedem Sexverkehr einen Revers vor, auf dem sie per Unterschrift versichert, daß alles in Ordnung gewesen sei und kein einziges Nein ignoriert wurde. So ist der Partner – glaubt er jedenfalls – bei später eventuell einmal anfallenden Prozessen gegen belastende Aussagen gesichert.

Einerseits also, nämlich für die sexuellen Revolutionäre und Abweichler, praktisch totale Freizügigkeit und, dies vor allem!, grellste Öffentlichkeit, andererseits für die braven Familienväter und Normalos schärfste Strafdrohungen – darauf läuft die „Sexualpolitik“ des zur Zeit in Berlin herrschenden medial-politischen Komplexes hinaus.

Typisch dafür ist ein langer Artikel zur Eröffnung des CSD-Jahres 2016 von Tilman Krause in der Welt. „Abertausende von Homosexuellen“, heißt es da, „freuen sich schon mächtig auf solche Höhepunkte des Jahres. Auf Ereignisse, bei denen sie zeigen können, daß sie stolz darauf sind, anders zu sein, ja daß sie inzwischen sogar eine gewisse Vorreiterrolle in Sachen Lebensgenuß und Lebensfreude für sich in Anspruch nehmen können. Und die staunenden Heteros, die auch dieses Jahr wieder als Zuschauer dabeisein werden, dürften den Lesben und Schwulen genau dafür ein weiteres Mal applaudieren.“

Hier ist zweifellos der Wunsch der Vater des Gedankens. Anspruchsvollere Zuschauer werden mit Sicherheit nicht applaudieren, gerade diejenigen, die Verständnis für sexuelle Spezifizierungen haben. Diese, wie überhaupt alle Variablen der Liebe, taugen nicht für die plumpe Öffentlichkeit des Marktes. Sie müssen sich, um Anteilnahme und Solidarität zu erzeugen, sublimieren, sich in Literatur, Kunst und anspruchsvolle Lebenskultur umsetzen, wie das übrigens schon immer der Fall gewesen ist und die Gesellschaft im ganzen befruchtet und manchmal sogar in Höhen getrieben hat. 

Das verschwitzte Gebrüll und Gezappel der CSD-Demos stellt „Öffentlichkeit“ nur auf allerniedrigstem Niveau her, reicht nicht einmal an den allerschlechtesten Karnevalsumzug heran, ist lediglich ein Ärgernis. Seine Erhebung zum politischen Großereignis, auf dem sich nun sogar die jeweiligen Bürgermeister und sonstige Parteigrößen einfinden, ist ein Zeichen von politischem Verfall und Niveauverlust. Er erzeugt unter den politischen und kulturellen Eliten anderer Länder nur Verachtung und bringt sie womöglich auf ungute politische Fährten.


Kaum weniger bedenklich ist allerdings die neue feminismusgesteuerte „Nein heißt Nein“-Politik im Sexualstrafrecht. Sie stellt ebenfalls nur schadenbringende Pseudo-Öffentlichkeit her, und das ausgerechnet in Lebensbereichen, die auf Intimität und Halbdunkel unabdingbar angewiesen sind. Sie verwandelt das Familien-, ja das gesamte Liebesleben in einen billigen Krimi, mit dem obligatorischen Strafprozeß am Ende. Dort wird dann das „Nein“ des Opfers geradezu obszön hin und her gewendet; über seinen Wahrheitsgehalt streiten sich nur noch Juristen.

Pankraz wurde dabei unwillkürlich an einen seinerzeit viel diskutierten Roman des jungen Walter Jens erinnert, der in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erschien: „Nein – Die Welt der Angeklagten“.  Das Buch taugte nichts, strotzte von ungenierten Anleihen bei George Orwell und Franz Kafka. Aber der Titel hatte es in sich. Ein bloßes „Nein“, so leuchtete aus ihm heraus, kann uns alle gerade wegen seiner semantischen Vieldeutigkeit zu lebenslangen Angeklagten machen, und wir haben keine Möglichkeit, uns dagegen zu verteidigen.

Für George Orwell besaß dieses „Nein“ freilich noch eine andere, auf vertrackte Weise tröstliche Dimension. Wir können uns das Nein, meinte er, zu eigen machen und es gegen totalitäre Regime oder Zumutungen in Stellung bringen. Wir als die ewig Angeklagten werden so selber zu Anklägern. Unsere Fähigkeit zum Neinsagen markiert Widerstand und ist letztlich  Beleg für unsere existentielle Freiheit.

Aber um solche Freiheit in Anspruch nehmen zu können,  bedarf es ziemlich oft großer Tapferkeit. Weder CSD-Demos noch fragwürdige Gesetze sind dabei hilfreich.