© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

Die Wehen des Brexit
Handelspolitik: Die Alternativen zur britischen EU-Mitgliedschaft sind für beide Seiten mit Vor- und Nachteilen verbunden
Dirk Meyer

Was vor kurzem kaum vorstellbar war, ist Realität geworden: Die EU droht zu zerreißen – ökonomisch an der Währungsunion und jetzt auch politisch am Brexit-Referendum. Während ein Grexit lediglich die Konsequenz des Scheiterns des kleinen Griechenlands an dem bereits aufgeweichten Regelwerk des Euro wäre, ist der Brexit-Entscheid Ausdruck einer existentiellen Kritik an der europäischen Integration.

Egal, wie die Briten selbst mit ihrem Brexit-Votum umgehen werden: Die Instabilität der EU ist gefährlich angestiegen und die Fliehkräfte in verschiedenen Mitgliedstaaten wachsen (JF 27/16). Deshalb hat eine Brexit-Lösung sowohl die britischen Interessen an einer Rückgewinnung ihrer staatlichen Souveränität, das Interesse der verbleibenden Mitglieder an einer gedeihlich-stabilen supranationalen Gemeinschaft und die Einhegung der destabilisierenden Fliehkräfte in den jeweiligen Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Welche Möglichkeiten stehen zur Diskussion?

Der regulierten EU droht erhebliche Konkurrenz

Zunächst die wohl schlechteste Alternative: Ohne eine Einigung droht Großbritannien der Rückfall als ein normales Mitglied der Welthandelsorganisation ähnlich Botswana oder Bangladesch. Es bestände allerdings die Möglichkeit der einseitigen Handelsliberalisierung, um mit dieser Deregulierungsstrategie als eine Art „Singapur Europas“ Wohlstandsgewinne bei Dienstleistungen zu realisieren, beispielsweise als Offshore-Finanzzentrum. Die regulierte EU müßte erhebliche Konkurrenz befürchten.

Zugleich könnten englische Industrien wie Stahl protektionistisch geschützt und die Zuwanderung begrenzt werden. Das Problem: 44 Prozent der Exporte – entsprechend 14 Prozent des britischen BIP – gehen in die EU, und 53 Prozent der Importe kommen aus der EU. Bei durchschnittlichen EU-Zöllen gegenüber Drittstaaten von 4,3 Prozent für Exporte in die EU und 3,8 Prozent für Importe aus der EU würde bei unveränderten Handelsströmen das zusätzliche Zollvolumen zirka 28 Milliarden Euro betragen, das Sechsfache des britischen Nettobeitrages in die EU. Bilaterale Freihandelsabkommen ähnlich dem EU-Kanada-Abkommen (Ceta) wären daher notwendig, benötigen aber wohl fünf bis sieben Jahre der Aushandlung. Derzeit ist das Land über die EU an 33 Freihandelsabkommen mit 62 Nicht-EU-Staaten beteiligt, die alle neu verhandelt werden müßten.

Auch deshalb werden insbesondere zwei Anbindungen an die EU diskutiert. Ähnlich Norwegen, Island und Liechtenstein könnte Großbritannien dem Europäischen Wirtschaftraum (EWR) angehören. Die den diskriminierungsfreien Marktzugang sichernden Binnenmarktregeln würden bis auf Einschränkungen im Agrarhandel fortbestehen. London als europäisches Finanzzentrum könnte über den sogenannten EU-Paß seine Finanzdienstleistungen weiterhin EU-weit anbieten. Demgegenüber basiert das Schweizer Modell auf sektoralen Abkommen mit der EU. 1999 wurden sieben Verträge (Bilaterale I: Personenfreizügigkeit, Abbau technischer Handelshemmnisse, öffentliche Auftragsvergabe, Forschung, Agrarhandel, Land- und Luftverkehr) abgeschlossen. 2004 kam ein weiteres Abkommen (Bilaterale II: Lebensmittel, Tourismus, Zinsbesteuerung, Sicherheit, Betrugsbekämpfung, Asyl, Umwelt, Kultur) hinzu. Dienstleistungen, speziell Finanzdienstleistungen sind jedoch weitgehend außen vor geblieben.

Beide Alternativen sind für die Briten angesichts der Austrittsgründe jedoch kaum akzeptabel: Nicht nur müßten alle EU-Gesetze inklusive die Arbeitnehmerfreizügigkeit in nationale Gesetze überführt werden und dies, ohne am Verhandlungstisch mit zu entscheiden. Zudem zahlt Norwegen jährlich 388 Millionen Euro für das EWR-Privileg, pro Einwohner 98 Prozent des derzeitigen britischen Nettobeitrages an die EU.

Qualifizierte Mehrheit für einen EU-Austrittsvertrag?

Die gezeigten Möglichkeiten sind aber nicht nur aufgrund der britischen Interessenlage unrealistisch. Gemäß Artikel 50 EU-Vertrag muß ein Abkommen innerhalb von zwei Jahren verhandelt sein. Eine Fristverlängerung wäre nur einstimmig möglich. Detailfragen wie die Finanzierung von EU-Projekten im südenglischen Cornwall und im Nordosten Englands stehen an. Was geschieht mit den britischen EU-Beamten und deren Pensionen?

Hält sich Großbritannien bis zum Austritt an das EU-Recht – auch bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit? Sodann benötigt ein Austrittsvertrag eine qualifizierte Mehrheit, bei der 20 von 27 EU-Staaten (72 Prozent) zustimmen müssen, die zugleich 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Am Ende steht die Ratifikation aller Mitgliedstaaten. Fazit: Der Erfolg dieser zeitlich und substantiell anspruchsvollen Prozedur ist kaum wahrscheinlich.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ordnungsökonomik an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.