© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

Eine Frage der Distanz
Duzen oder Siezen? Die vertrauliche Anrede als Ausdruck von Vertrauen ist ein Ritterschlag
Ronald Berthold

Darf ich mal ganz persönlich anfangen? Sind Sie damit einverstanden, wenn ich Sie in diesem Text mit „Du“ anspreche? Oder soll ich lieber beim „Sie“ bleiben? Gut, Sie können nicht antworten, daher muß ich das entscheiden. Da ich so gut wie niemanden von Ihnen kenne und Sie mit mir auch nicht gemeinsam Schweine gehütet haben, verbietet sich das „Du“. Finde ich.

Aber damit stehe ich zunehmend allein. Wo einst Umgangsformen geschätzt wurden, da macht sich eine Kumpanei breit, die das Duzen als Ausdruck der Gleichwertigkeit mißversteht. Vergeblich versucht, das Genossen-Du volkstauglich zu machen, haben einst die 68er. Politisch völlig unbeabsichtigt vollendete ihr Streben später Thomas Gottschalk. Weil der schwer beliebte Sonnyboy mit seiner Lockerheit zahlreichen Journalisten im Rundfunk als Vorbild galt, übernahmen viele seine Dauerduzerei. Dabei fiel offenbar keinem auf, daß es irgendwie peinlich war, wenn er die 83jährige Erna Müller mit dicker Hornbrille und weißer Dauerwelle vertraulich ansprach, obwohl er sie gerade zum ersten Mal sah.

Diese Unsitte hat sich daher dann auch im Radio zuerst durchgesetzt. Hier kommt noch der amerikanische Einfluß hinzu, wo sich inzwischen fast alle beim Vornamen ansprechen. Selbst im Umgang mit Behörden ist das nicht mehr ungewöhnlich. Lediglich der Polizist bleibt ein Officer. Allerdings hat es dort, was viele Duz-Meister zu ignorieren scheinen, auch noch nie ein „Sie“ gegeben. Und so nimmt das Unheil hierzulande seinen Lauf: Übertrieben gutgelaunte, junge Moderatoren duzen ihre Hörer auch dann, wenn diese sich mit brüchiger Stimme und ihrem Nachnamen vorstellen. Motto: Wir sind alle eine glückliche Familie. Bis heute frage ich mich, ob ich dem Radiomann das nicht auch abnähme, wenn er mich nicht mit „Du“ ansprechen würde.

Und da auch unsere Wirtschaft glaubt, der Königsweg zu hoher Identifikation mit dem Unternehmen liege in der Art der Anrede, setzt sich dieser – und das ist die bessere Vokabel dafür – Irrweg bis in höchste Kreise durch. Wer einmal in einer Pressekonferenz von Siemens gesessen hat und erleben mußte, wie eine subalterne Mitarbeiterin der Pressestelle den Vorstandsvorsitzenden des Weltkonzerns, Joe Kae-

ser, ganz stolz duzte, der weiß, was ich meine. Bin ich wirklich altmodisch, wenn ich finde, das gehöre sich nicht? Wenn ich mich sogar ziemlich fremdschäme? Wo bleibt der Respekt, die Distanz?

Aber Distanzlosigkeit und sogenannte flache Hierarchien sind ja gerade die Zauberworte einer zunehmend mediokeren ökonomischen Elite. Gerade hat das Lebensmittelunternehmen Lidl bekanntgegeben, das „Du“ eingeführt zu haben. Daß sich Kassiererinnen, die seit Jahren in ein und derselben Filiale arbeiten, untereinander duzen, gut und schön; das ist Privatsache. Aber darum geht es nicht. Wenn Vorstandschef Sven Seidel eine Filiale besucht, dann ist er nicht mehr länger der „Herr Seidel“, sondern der Sven. Fehlt eigentlich nur noch, daß er sich Svenni nennen läßt.

Das Mißverständnis von Lidl-Sven liegt darin, daß er annimmt, die Verkäuferin, die gerade die Kisten mit den Ketchup-Flaschen auspackt, fühle sich daher mit ihm auf einer Stufe. Das wird sie nie tun, und sie wird weiter halb vor Ehrfurcht erstarren, wenn der Boß ihren Laden betritt. Und glauben Sie mir: Auch Herr Seidel sieht sich nie mit ihr auf einer Ebene. Schon da beginnt die „Du“-Lüge.

Geradezu grotesk wird es, wenn der Lidl-Chef meint, die Duzerei sei ein Instrument, um die besten Absolventen zum Discounter zu holen. Die Crème de la Crème soll, so wörtlich, nicht mehr zu Google, Amazon oder Apple gehen, sondern zu Lidl. Selbst die 5.000 Mitarbeiter, vor denen Seidel diese Rede hielt, mußten herzhaft lachen. Durch die vermeintlich hippe Form der Anrede will der Billigheimer attraktiver werden als drei führende Software-Weltkonzerne. Wenn das „Du“ hier mal nicht doch ein wenig überschätzt wird … Ach ja, und vergessen Sie bei Ihrem nächsten Einkauf bitte nicht, der Dame an der Kasse nach dem Bezahlen ein freundliches „Mach’s gut“ zu wünschen. Das gehört dort jetzt zum guten Ton.

Das Ganze bringt uns zum Wert des „Du“. Den kann es nur erlangen, wenn es vorher ein „Sie“ gab. Wo ist die Auszeichnung, wenn ich die Herren Kaeser und Seidel duze, ohne daß die mir das angeboten haben? Und vor allem, wenn es jeder tut? Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie mir ein allseits hochgeschätzter und 16 Jahre älterer Kollege vor langer Zeit die vertrauliche Anrede vorschlug. Es war wie ein Ritterschlag. Da hatten wir uns lange gesiezt, so wie er es auch mit fast allen anderen tat. Mit ihm auf „Du“ zu sein, bedeutet mir bis heute sehr viel. Doch wo wäre das Gefühl der Besonderheit, wenn es die Differenzierung nicht gäbe? Das „Du“ war bisher immer ein Ausdruck von langer Freundschaft und von Vertrauen. Nun wird es beliebig.

Nicht viel anders ist es mit unseren Kindern. Es hat sich eingebürgert, daß diese die Eltern ihrer Freunde fast durchweg duzend mit dem Vornamen ansprechen. Kein „Frau Schulz“ mehr, wie wir das früher gewohnt waren, wenn wir mit der Mutter eines Kumpels sprachen. So wird den Kleinen das „Sie“ fast schon aberzogen.

Ich bestand bei den Klassenkameraden meiner Söhne immer auf dem „Sie“. Das führte sogar zu Verwerfungen, als ich meiner heute heißgeliebten und damals im Teenager-Alter befindlichen Schwiegertochter das Du ausschlug. Ich sprach davon, daß dies keinen Wert für sie habe, wenn sie sich das praktisch zwischen Tür und Angel abstaube. Und daß der Ältere darüber zu befinden habe. Meine Unnachgiebigkeit verhunzte der Guten damals ein wenig die Konfirmationsfeier unseres Kindes. Aber sie hat etwas gelernt, wird es vielleicht sogar eines Tages ebenso handhaben. Und meine Frau litt an jenem denkwürdigen Tag ebenfalls mit dem Mädchen, das so übel aufgelaufen war. Ein paar Monate später saßen wir alle beim Italiener, und ich bot ihr feierlich das Du an. Das hatte etwas – vor allem für die junge Dame. Bis heute kommen wir immer wieder lachend auf diese legendären Szenen zurück, wenn wir beim Essen zusammensitzen.

Mit dem inflationären „Du“ machen wir uns eine Menge kaputt – nur weil wir uns einreden (lassen), sonst nicht locker zu sein. Wer gilt schon gern als Spießer? Doch mit Lässigkeit hat die Duzerei überhaupt nichts zu tun. Wer wirklich locker ist, entscheidet nicht die Anrede, sondern der Charakter und die Haltung. Oft ist sogar das Gegenteil richtig: Wer wenig Stil hat, den Verklemmten in sich aber verdrängen möchte, beginnt jeden zu duzen. Er outet sich damit als kulturlosen und unhöflichen Ignoranten.