© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

Unter dem Radar der Sanktionen
Mehr Zusammenarbeit: Unternehmer beleben pragmatisch die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen
Thomas Fasbender

Nachdem Israel und die Türkei nach sechs Jahren Eiszeit – sowie 20 Millionen Dollar Entschädigung für die Hinterbliebenen der vom israelischen Militär erschossenen türkischen Palästina-Aktivisten – eine Aussöhnungsvereinbarung getroffen haben, ist auch das nächste Zerwürfnis Geschichte: Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan haben sich per Telefon ausgesprochen und offenbar miteinander versöhnt. Doch während mögliche Energiegeschäfte zwischen Jerusalem und Ankara noch Zukunftsmusik sind – vor der Küste des Heiligen Landes harren große Gasvorkommen der Erschließung –, zeigte die Präsidenten-Versöhnung sofortige Wirkung: Das russische Einfuhrverbot für türkische Lebensmittel wird aufgehoben, das Verkaufsverbot für Türkeireisen soll demnächst folgen.

Gesprächswiederaufnahme nach zwei Jahren Funkstille

Zwischen Brüssel und Moskau herrscht hingegen offiziell noch kein Tauwetter. Die EU-Wirtschaftssanktionen gegen Rußland wurden im Juni um sechs Monate verlängert. Im Gegenzug verlängerte Moskau das Einfuhrverbot für westliche Lebensmittel bis Ende 2017 – was nicht nur deutsche Milchbauern (JF 25/16), französische Käsereien oder polnische Apfelbauern weiter leiden läßt. Dennoch kommt in die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen langsam Bewegung.

Nach zwei Jahren der Unterbrechung trat jetzt in Berlin erstmals wieder die deutsch-russische Strategische Arbeitsgruppe für Wirtschaft und Finanzen (SAG) zusammen. Die im Jahr 2000 von Gerhard Schröder und Putin ins Leben gerufene Plattform diskutiert Investitions- und Rahmenbedingungen. Den Vorsitz teilen sich ein deutscher Staatssekretär und ein russischer Vizeminister. Schwerpunktmäßig geht es um konkrete Probleme bis hin zu Einzelfällen deutscher oder russischer Investoren.

Die Wiederaufnahme des Gesprächs nach zwei Jahren Funkstille entspricht dem Wunsch beider Seiten. Krim- und Ukrainekonflikt hin oder her, Rußland und Deutschland sind auf den Dialog angewiesen. Der aus Moskau angereiste Vizeminister für Wirtschaftsentwicklung, Alexej Lichatschow, machte kein Hehl daraus, daß gerade auch Rußland an einer Normalisierung der Beziehungen interessiert sei. Gemeinsam mit Uwe Beckmeyer (SPD), Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, eröffnete er im Anschluß an die SAG-Tagung die zweite Deutsch-Russische Unternehmerplattform. Deren Ziel ist, die staatlich angebundene Strategische Arbeitsgruppe als zivilgesellschaftliche Initiative der privaten Unternehmerschaft zu begleiten.

Die Wirtschaft hat im Umgang mit Rußland mehrheitlich ihren Modus gefunden. Immer noch sind fast 6.000 deutsche Unternehmen dort permanent vertreten, sei es durch Tochtergesellschaften, Gemeinschaftsunternehmen oder Repräsentanzen. Anhänger des „westlichen“ Merkel-Kurses gibt es auch unter den deutschen Managern in Moskau, doch die muß man mit der Lupe suchen. Einen veritablen Drahtseilakt vollführen die Verbandsvertreter, etwa der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer oder des Ost-Ausschusses der deutschen Wirtschaft. Wer allzu offen gegen die Linie des Kanzleramts opponiert, riskiert die Karriere. Doch welchen Sinn sollte das haben, wo man die Politiker sowieso nicht überzeugen kann?

Der wirkliche Austausch zwischen Russen und Deutschen findet weit unter dem Radar der Medien und der Politik statt. Wo Unternehmen früher jede Rußlandinvestition stolz mit einer Pressemeldung krönten, hält man sich heute bedeckt. Daß im April eine Delegation des Ost-Ausschusses unter Leitung des neuen Vorsitzenden, Linde-Chef Wolfgang Büchele, nach Moskau aufbrach und von Putin persönlich empfangen wurde, blieb weitgehend ohne Medienresonanz. Das gleiche gilt für das Frühstück des russischen Premiers Dmitri Medwedew mit deutschen Wirtschaftsvertretern im Februar am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz.

Daher nahm kaum jemand wahr, daß die deutschen Direktinvestitionen in Rußland 2015, nach einem negativen Saldo im Jahr zuvor, schon wieder bei 1,78 Milliarden Euro lagen, verteilt auf 36 Projekte. Mehr Geld hatten deutsche Investoren bislang nur 2006 bis 2008 sowie 2010 ins Land gebracht. Für 2016 steht eine weitere Überraschung ins Haus. Allein im ersten Quartal betrugen die deutschen Direktinvestitionen bereits 1,1 Milliarden Euro.

Ausschlaggebend für den Investitionsboom ist das Stichwort Importsubstitution. Zwar kennen die Unternehmen seit Jahren den Begriff Lokalisierung. Automobilproduzenten etwa, die in Rußland ihre Bausätze montieren wollen, müssen sich verpflichten, binnen einer bestimmten Frist einen bestimmten Prozentsatz der Wertschöpfung im Lande sicherzustellen. Importsubstitution ist die Turbo-Variante der Lokalisierung. Das Mitte 2014 beschlossene Importembargo für westliche Agrar- und Lebensmittelprodukte hat sich als protektionistische Maßnahme etabliert.

Rußland subventioniert deutsche Landmaschinen

Was als Antwort auf westliche Sanktionen begann, dient inzwischen dem forcierten Aufbau der russischen Lebensmittelindustrie. Wie sehr die deutschen Agrarproduzenten von dem Embargo betroffen sind, zeigen schlichte Zahlen: Vor der Ukraine-Krise haben deutsche Exporteure 52.000 Tonnen Milch, Milch-Erzeugnisse, Eier und Honig nach Rußland geliefert. 2015 waren es nur noch 7.000 Tonnen.

Beim staatlichen Projekt Importsubstitution werden ausländische Investoren nicht diskriminiert. Wer mindestens 750 Millionen Rubel (umgerechnet gut zehn Millionen Euro) für den Aufbau einer in Rußland nicht vorhandenen Produktion in die Hand nimmt und sich gleichzeitig verpflichtet, zehn Jahre im Land zu bleiben, erhält vom Staat einen Sonder­investitionsvertrag. Dieser verleiht der ausländischen Tochter das Recht auf Gleichbehandlung mit einheimischen russischen Unternehmen.

Als erste ausländische Firma überhaupt hat der Landmaschinenbauer Claas in diesem Jahr einen solchen Vertrag unterschrieben. Seit 2005 produzieren die Westfalen im südrussischen Krasnodar; jetzt wurde für 120 Millionen Euro ein neues Werk gebaut. Bis zu 2.500 Traktoren und Mähdrescher sollen dort jedes Jahr von den Bändern laufen. Und jeden einzelnen subventioniert der russische Staat – derzeit jedenfalls – mit einem Viertel des Kaufpreises.

Andere springen ebenfalls auf den Zug. Bionorica aus der Oberpfalz, Hersteller von Naturarzneien, machte vor der Krise rund ein Viertel des Umsatzes in Rußland. Seither brachen die Zahlen ein. Jetzt wird für 30 Millionen Euro eine eigene Produktion in Woronesch, 500 Kilometer südlich von Moskau, aufgebaut. 2017 soll es soweit sein. Auch Rohstoffe wie Heilpflanzen sollen dann aus Rußland bezogen werden.

Ost-Ausschuß der Deutschen Wirtschaft:  www.ost-ausschuss.de

Deutsch-Russisches Forum:  www.deutsch-russisches-forum.de

Übersicht der EU-Sanktionen gegen Rußland  europa.eu/

Foto: Montagekleberverpackung bei Henkel in Tosno (Leningrader Oblast): Der deutsche Chemiekonzern verlegte kürzlich seine Produktion für den russischen Markt von Estland in den Sankt Petersburger Vorort