© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Die Ehe: gefährdete Ressource des Gemeinwohls
Familie gut, alles gut
Manfred Spieker

Groß vom Menschen zu denken, ist charakteristisch für das Menschenbild des Grundgesetzes. Die entscheidende politische und lebenspraktische Bedeutung dieser Einsicht besteht darin, daß kein Mensch sich sein Lebensrecht oder seine Menschenwürde erst durch seine Fähigkeiten oder Leistungen verdienen muß, sondern daß diese ihm mit seinem Dasein gegeben sind. Daß dieses Lebensrecht und diese Würde seit 40 Jahren millionenfach mißachtet werden – die Abtreibungsstatistik des Statistischen Bundesamtes registriert von 1976 bis zum 31. März 2016 über 5,8 Millionen Abtreibungen, zu denen in etwa die gleiche Anzahl nicht registrierter Abtreibungen hinzugezählt werden muß –, ist das verdrängte Drama der Gegenwart.

Der Mensch verdankt seine Existenz dem leiblichen Einswerden seiner Eltern. Die Komplementarität und die gegenseitige Anziehung der Geschlechter, ihr dialogisches Verhältnis und ihr wechselseitiges Begehren drängen die meisten Menschen dazu, selbst eine solche Beziehung einzugehen, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen. Die Ehe ist die rechtmäßige, dauernde Lebens- und Geschlechtsgemeinschaft eines Mannes und einer Frau. Sie vereinigt einen Mann und eine Frau ganzheitlich, nicht nur leiblich, sondern auch geistig und seelisch. Auch umgekehrt gilt: Eine Ehe vereinigt Mann und Frau nicht nur geistig oder emotional, sondern auch leiblich. Der Geschlechtsakt ist deshalb ein untrennbar leiblicher und geistiger Akt. Es kommen nicht nur die komplementären Körperteile, sondern zwei Personen zusammen. Mann und Frau werden, biblisch ausgedrückt, „ein Fleisch“. Sie „erkennen“ einander. Der Geschlechtsakt ist ein Akt gegenseitiger Vollendung durch vorbehaltlose Hingabe.

Eine solche umfassende Hingabe vermag jenes Glück und jene Seligkeit – und jene Schönheit – zu schenken, auf die unser ganzes Sein wartet. Sie läßt uns etwas vom Geschmack des Göttlichen spüren. So hat es Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika „Gott ist die Liebe“ 2005 ausgedrückt und einmal mehr die Mythen von der prüden katholischen Kirche widerlegt. Die Ehe setzt die umfassende gegenseitige Bejahung, die lebenslange Treue und die Offenheit für die Weitergabe des Lebens voraus. Die Ehe drängt dazu, Familie zu werden. Das ist das Normale, das Natürliche, das Vernünftige.

Um Einblicke in das Wesen der Ehe zu gewinnen, bedarf es keines religiösen Glaubens. Die Ehe ist ein natürlicher Bund von Mann und Frau, der weder durch den Gesetzgeber noch durch den Priester konstituiert wird. Politik und Religion können diesen Bund nur zur Kenntnis nehmen und besiegeln (auf dem Standesamt) beziehungsweise feiern und segnen (im Traugottesdienst in der Kirche).

Dieser natürliche Bund ist die Basis der Familie. Eine Familie ist eine Gemeinschaft verschiedener Geschlechter und Generationen. Auch das Grundgesetz geht in Art. 6, Abs. 1 von diesem natürlichen Zusammenhang von Ehe und Familie aus: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung“. Das heißt, sie werden nicht erst durch die Verfassung oder den Gesetzgeber konstituiert. Sie sind ihm vorgegeben. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich mit zwingender Logik Art. 6, Abs. 2 GG, der ausdrücklich auf das Naturrecht Bezug nimmt: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“

Das Wächteramt des Staates, von dem hier die Rede ist, bedeutet nur, daß der Staat dort zu intervenieren befugt ist, wo Eltern ihrer Erziehungspflicht zum Schaden des Kindes nicht nachkommen. Die Beweispflicht liegt in diesem Fall beim Staat. Er ist nicht befugt, die Erziehung unter Berufung auf irgendeinen Bildungsauftrag in die eigene Regie zu nehmen.

Jeder Staat hat, so verkündete der 5. Familienbericht der Bundesregierung 1994, ein vitales Interesse, „diejenigen privaten Lebensformen besonders auszuzeichnen, zu schützen und zu fördern, welche Leistungen erbringen, die nicht nur für die Beteiligten, sondern auch für die übrigen Gesellschaftsbereiche notwendig sind. Aus soziologischer Sicht haben sie somit eine gesellschaftliche Funktion, aus ökonomischer Sicht produzieren sie positive externe Effekte.“

Eine intakte Ehe heißt nicht, daß es keine Konflikte gibt, aber sie erfordert ein niedriges Konfliktniveau, die Einsicht, daß nicht Selbstbestimmung, sondern Selbsthingabe der Schlüssel für ein gelingendes Leben ist und ein Handeln nach dieser Einsicht.

Seit Jahrhunderten werden Ehe und Familie deshalb in sehr verschiedenen politischen Systemen, in den verschiedensten Kulturen und Religionen moralisch wie rechtlich geschützt, gefördert und privilegiert, weil sie nicht nur den Wünschen der beteiligten Personen entsprechen, sondern der ganzen Gesellschaft Vorteile bringen. Das unterscheidet Ehe und Familie von einer eingetragenen Lebenspartnerschaft. Ehe und Familie sorgen zum einen für die physische Regeneration der Gesellschaft, für ihre biologische Reproduktion, mithin für ihre Zukunft, und zum anderen für die Bildung des Humanvermögens der nächsten Generation. Ehe und Familie sorgen in der Regel für die Geburt von Kindern, nicht weil die Eltern an die Zukunft der Gesellschaft denken, sondern weil sie sich lieben. Die Zeugung eines Kindes ist die Inkarnation ihrer Liebe.

Die Ehe ist eine Ressource für die Ehepartner. Im Hinblick auf die aus ihrer geschlechtlichen Vereinigung hervorgehenden Kinder schafft sie eindeutige Bande der Zugehörigkeit, der Identität und der Verwandtschaft sowie der Verantwortung. Verheiratete Männer profitieren von einem stabilen familiären Leben, verheiratete Frauen von der Sicherheit und dem Schutz, der Anerkennung der Vaterschaft ihrer Kinder und der gemeinsamen Verantwortung. In der wirtschaftswissenschaftlichen Glücksforschung spielen Ehe und Familie deshalb eine zentrale Rolle. Sie gelten unter sieben Glücksfaktoren als der allerwichtigste.

Ehe und Familie sind, wenn sie intakt sind, und intakt sind sie, wenn Vater und Mutter sich lieben, eine kaum zu überschätzende Ressource für die Kinder. Eine intakte Ehe heißt nicht, daß es keine Konflikte gibt, aber sie erfordert ein niedriges Konfliktniveau, die Einsicht, daß nicht Selbstbestimmung, sondern Selbsthingabe der Schlüssel für ein gelingendes Leben ist und ein Handeln nach dieser Einsicht. Ehe und Familie erlauben es den Kindern, sich zu entwickeln und zu reifen. Sie befriedigen ihr Bedürfnis, ihre biologische Identität zu kennen. Sie vermitteln soziale Beziehungen und Tugenden, die für deren Humanvermögen wichtig sind.

Das Humanvermögen ist die Gesamtheit der Daseins- und Sozialkompetenzen des Menschen, die dem Erwerb von beruflichen Fachkompetenzen vorausliegen. Diese Daseins- und Sozialkompetenzen sind für die Entwicklung der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Kultur von kaum zu überschätzender Bedeutung. Sie werden in der Familie erworben. In ihr werden die Weichen gestellt für die moralischen und emotionalen Orientierungen des Heranwachsenden, für seine Lern- und Leistungsbereitschaft, für seine Kommunikations- und Bindungsfähigkeit, seine Zuverlässigkeit und Arbeitsmotivation, seine Konflikt- und Kompromißfähigkeit und seine Bereitschaft zur Gründung einer eigenen Familie, zur Weitergabe des Lebens und zur Übernahme von Verantwortung für andere. In der Familie wird über den Erfolg im schulischen und beruflichen Erziehungs- und Ausbildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt und in der Bewältigung des Lebens vorentschieden.

Deshalb ist die Familie eine unersetzbare Ressource für das Gemeinwohl. Kinder intakter Familien haben eine wesentlich geringere Rate des Schulschwänzens und des Schulabbruchs oder, positiv ausgedrückt, eine deutlich höhere Schulerfolgsrate sowie eine bessere physische und psychische Gesundheit und eine bessere eigene Entwicklung in der Pubertät als jene aus Haushalten alleinstehender Eltern, aus Familien mit Stiefeltern oder aus gleichgeschlechtlichen Haushalten. Nach der Bedeutung der Familienverhältnisse für den Schulerfolg zu fragen, ist in Deutschland politisch inkorrekt. Aber es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, daß Kinder intakter Familien der Welt mit mehr Hingabe­bereitschaft, größerer Hoffnung, höherem Selbstvertrauen, besserer Selbstkontrolle und deshalb mit reicheren Berufsperspektiven gegenübertreten.

Die Folgen der Relativierung der Ehe, die dramatische Ausmaße annehmen, betreffen zunächst die Eheleute selbst, dann die Kinder, schließlich die Gesellschaft und den Staat und nicht zuletzt generationenübergreifend die demographische Entwicklung.

Die Bedeutung der Familie als Ressource für das Gemeinwohl wird noch einmal deutlich, wenn die Folgen untersucht werden, die das Zerbrechen von Familien und die Relativierung der Ehe durch die Gender-Ideologie und die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften hat. Diese Folgen, die seit mehr als einer Generation dramatische Ausmaße annehmen, betreffen zunächst die Eheleute selbst, dann die Kinder, schließlich die Gesellschaft und den Staat und nicht zuletzt generationenübergreifend die demographische Entwicklung. Sie gleichen einer pathologischen Spirale. Das Scheitern einer Familie vermindert Gesundheit, Wohlstand und Wohlbefinden – die drei Dinge, an denen die Menschen am meisten interessiert sind. Verminderte Gesundheit, verminderter Wohlstand und vermindertes Wohlbefinden belasten die Beziehungen und verstärken und perpetuieren so den Teufelskreis des Scheiterns.

Welche Entwicklungen haben dazu geführt, Ehe und Familie als Ressource des Gemeinwohls zu gefährden? Zum einen die Reduzierung der Ehe auf ein emotionales Bündnis und ihre Abkoppelung von der Generativität, der sich Papst Paul VI. mit der Enzyklika „Humanae Vitae“ entgegenzustemmen versuchte. Zum anderen die Gender-Ideologie. Die Verbreitung der chemischen Empfängnisverhütung Anfang der sechziger Jahre verdunkelte den Zusammenhang von Geschlechtsakt, umfassender Selbsthingabe und Offenheit für die Weitergabe des Lebens.

Die Reduzierung der Ehe auf ein emotionales Bündnis ließ darüber hinaus die Forderungen homosexueller Interessengruppen nach einer Ehe für alle plausibler erscheinen. Das Verständnis von Familie als einer Beziehungseinheit verschiedener Geschlechter und Generationen wurde geschwächt. Die Vorstellung, daß das biologische Geschlecht des Menschen irrelevant sei im Vergleich zu dem von Gesellschaft und Kultur determinierten Geschlecht, ist ein fundamentaler Angriff auf Ehe und Familie. An die Stelle der sexuellen Identität von Mann und Frau tritt die sexuelle Orientierung, die der Mensch selbst wählt, die also allein von seinem Willen abhängen soll. Jeder Form der Sexualität wird deshalb das gleiche Recht zugesprochen. Der Begriff „Gender“ leugnet eine vorgegebene Natur des Menschen.

Judith Butlers Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“, das literarische Flaggschiff des „Gender Mainstreaming“, dient, wie der Untertitel im englischen Original zum Ausdruck bringt, „The Subversion of Identity“, der Zerstörung einer vorgegebenen geschlechtlichen Identität. Die Kategorie „Frau“ ist für Butler nichts Vorgegebenes, sondern „ein prozessualer Begriff, ein Werden und Konstruieren“, bei dem es keinen Anfang und kein Ende gibt. Das gilt dann konsequenterweise auch für den Mann. Die Attribute und Akte geschlechtlicher Identität seien „performativ“, das heißt, sie werden erst im konkreten Verhalten geschaffen. Deshalb gebe es „weder wahre noch falsche, weder wirkliche noch verzerrte Akte der Geschlechtsidentität“. Für Elisabeth Tuider, Protagonistin der „Sexualpädagogik der Vielfalt“, sind „Identitäten, geschlechtliche und sexuelle Positionierungen (…) mit einem Ablaufdatum versehen und sagen höchstens ‘zur Zeit’ etwas über einen Menschen aus“.

Um Ehe und Familie als Ressourcen des Gemeinwohls zu schützen, ist Kritik an der Gendertheorie notwendig. Die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus sowie die Bischofssynode 2015 haben diese Kritik ausführlich und begründet geleistet. Die Deutsche Bischofskonferenz schweigt einstweilen noch. Um Ehe und Familie als Ressource des Gemeinwohls zu schützen, ist aber über die Kritik hinaus seitens der katholischen Kirche die Kenntnis und die Verkündigung des eigenen Schatzes, der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, der Enzyklika „Humanae Vitae“, der Apostolischen Schreiben von Johannes Paul II., „Familiaris Consortio“, und von Franziskus, „Amoris Laetitia“, notwendig. Diese Lehre ist viel leibfreundlicher als alle Gendertheorien. Sie beruht auf dem Evangelium des fleischgewordenen und in einer Familie aufgewachsenen Gottessohnes.

Das Geheimnis der Liebe Gottes zum Menschen gewinnt seine sprachliche Gestalt, so Benedikt XVI. 2005, aus dem Vokabular von Ehe und Familie. Deshalb bleibt die Ehe, so der Titel eines Buches der amerikanischen Historikerin Elizabeth Fox-Genovese, „der Traum, der sich weigert zu sterben“, und die Familie, so Joachim Kardinal Meisner, „eines der kostbarsten Erbstücke aus dem Paradies“.






Prof. em. Dr. Manfred Spieker, Jahrgang 1943, lehrte von 1983 bis 2008 Christliche Sozialwissenschaften am Institut für katholische Theologie an der Universität Osna­brück.

Manfred Spieker: Gender-Mainstreaming in Deutschland. Konsequenzen für Staat, Gesellschaft und Kirchen, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016, kartoniert, 116 Seiten, 16,90 Euro