© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Der Regen bestimmte den Programmablauf
Klassik-Festival: Leningrader Sinfonie am Dresdner Elbufer und Schostakowitschtage im sächsischen Gohrisch
Sebastian Hennig

Im Kurort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz finden jährlich die Internationalen Schostakowitschtage statt. Das dreitägige Festival wurde 2010 von den Musikern der Sächsischen Staatskapelle ins Leben gerufen. An dem Agentenbetrieb vorbei konnten immer wieder bedeutende Solisten dafür gewonnen werden, ohne Gage in einer großen Scheune der Agrargenossenschaft zu gastieren. Im vergangenen Jahr machte sogar das traditionsreiche russische Borodin-Quartett hier einen ländlichen Abstecher seiner Jubiläumstour. 

Als Angebinde zum Festival fand dieses Jahr vorab ein großes volkstümliches Sinfoniekonzert am Dresdner Elbufer statt. Der österreichische Dirigent Franz Welser-Möst (55) debütierte am Pult der Staatskapelle mit dem berühmtesten sinfonischen Werk Schostakowitschs, der siebenten Sinfonie, die auch die Leningrader genannt wird.

Vor fünfundzwanzig Jahren wurde Leningrad per Volksabstimmung wieder in Sankt Petersburg zurückbenannt. Das Verwaltungsgebiet um die zweitgrößte Stadt Rußlands wird allerdings nach wie vor als Leningrader Oblast bezeichnet. Mit der Leningrader Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch bleibt der temporäre Name auch im Kanon der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts verzeichnet und erscheint weltweit immer wieder auf den Programmzetteln.

Charmante Improvisation lockt das Publikum

Der Komponist wurde 1906 noch in Sankt Petersburg geboren. Er studierte am dortigen Konservatorium bei Alexander Glasunow, der über seinen berühmtesten Schüler äußerte: „Ich finde seine Musik schrecklich. Aber das tut nichts zur Sache. Die Zukunft gehört nicht mir, sondern diesem Jungen!“ Zu einem Welterfolg wurde bereits seine erste Sinfonie, die der Neunzehnjährige als Abschlußarbeit 1926 vorgelegt hatte. Schostakowitsch war fortan eine unentbehrliche Prestigefigur für das Sowjetregime. Doch die große Jubelmusik für Staat und Partei, die man von ihm erwartete, hat er nie geschrieben.

Daß auch die Leningrader Sinfonie in dieser Hinsicht ein unlösbares Geheimnis bleibt, trägt zur anhaltenden Geltung dieses Werkes bei. Bis heute wird gerätselt, ob an jener Stelle der Partitur die deutsche Wehrmacht vorrückt oder an dieser der Diktator Stalin porträtiert wird. Innerhalb weniger Wochen nach dem Kriegsbeginn hatte der Komponist das Werk ausgearbeitet. Den letzten Schliff erhielt die Partitur dann in Kuibyschew/Samara, wohin seine Familie im Oktober 1941 ausgeflogen wurde.

In Dresden erklang die Leningrader Sinfonie beziehungsreich einen Tag nach dem 70. Jahrestag des Angriffs. Auf dem Terrassenufer vor der Kulisse der wiedererrichteten Altstadt von Dresden erhielt die vorab von Orchester und Dirigent ausgesprochene Friedenswidmung dieser Aufführung ein besonderes Gewicht. Der Musikjournalist Axel Brüggemann, der schon die öffentlichen Übertragungen während der Bayreuther Festspiele, aber auch von der Semperoper auf dem Dresdner Theaterplatz moderiert hatte, machte zu diesem empfindlichen Anlaß keine gute Gestalt. Das Publikum bekundete sogar vereinzelt seinen Unmut über die hemdsärmelige Art seiner Einführung.

Ohnehin war die kulturpolitische Symbolik des Konzertes schwerwiegender als ihr musikalischer Genuß. Das Freiluftkonzert eines solchen Orchesters stellt immer eine große Verschwendung dar, weil die elektroakustische Verstärkung und zahlreiche unkalkulierbare Störungen durch Nebengeräusche die Haupttugenden der Aufführung auslöschen. An den leisen Stellen rauschte oft eine Straßenbahn über die nahe Carolabrücke, ein Martinshorn oder ein beschleunigendes Motorrad waren zu vernehmen. Doch das sommerliche Gemeinschaftsgefühl der viertausend Menschen unter einem strahlend klaren Himmel entschädigte für diese Mängel.

Zu den Konzerten in Gohrisch erklingt vor allem die Kammermusik Schostakowitschs. Innerhalb dieser kommt dem 1960 in Gohrisch entstandenen achten Streichquartett der Rang zu, den die siebte unter den sinfonischen Werken einnimmt. Wenn die Leningrader Sinfonie sein extrovertiertestes, so ist das Streichquartett sein persönlichstes Werk.

Der Reiz der schönen Landschaft und der charmanten Improvisation lockt das Publikum immer wieder zahlreich nach Gohrisch. Schwierig wird es stets, wenn der Regen auf das Dach trommelt und sich die Feuchtigkeit schlagartig im Inneren der Halle ausbreitet. Es mußte ein Wandelkonzert mit Liedern leicht gekürzt werden. Das Nachtkonzert mit Beethovens Mondscheinsonate und Schostakowitschs letztem Werk, der Bratschensonate, wurde Samstagnacht im Gewitter erstickt und mußte zur Hälfte abgebrochen werden. Das Wetter erwies sich damit als der bessere Programmdirektor, indem die schwermütige Sonate dem Abschlußkonzert am Sonntagnachmitag angehängt wurde.

Andernfalls wäre das Festival etwas läppisch mit Hanns Eislers „Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben“ ausgeklungen, zu denen der Stummfilm „Regen“ (1929) von Joris Ivens gezeigt wurde. Eigentlich war das eine schöne Idee, doch das Werk entfaltet keine sinnliche Kraft.

In der vorangegangenen Matinee-Veranstaltung hatte Uwe Tellkamp mit der Erzählung „Freundeskreis Musik“ eine Kostprobe aus einem in Arbeit befindlichen Werk gegeben. Seine bissige Schilderung aus dem Dresdner Musiker- und Kritikermilieu strotzte vor Indiskretionen und Kalauern und wurde gleichwohl mit großer Zustimmung aufgenommen. Dazu erklangen Werke von Beethoven, Eisler und Schostakowitsch.

Für die Schostakowitschtage im nächsten Jahr ist eine Uraufführung aus dem Nachlaß des Komponisten angekündigt.