© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Überhitzte Debatten
Großbritannien: Nach dem Brexit präsentiert sich das Vereinigte Königreich als tief gespaltenes Gebilde – Jung gegen Alt, Schotten gegen Engländer
Josef Hämmerling

Der geplante Austritt aus der EU hat zu einer tiefen Spaltung quer durch das britische Volk geführt. Nicht nur, daß sich die Engländer in zwei Lager aufspalten, auch die verschiedenen Länder des britischen Verbunds sind sich uneins. Besonders Schottland und Nordirland wehren sich gegen das Ergebnis des Referendums und drohen offen mit der Abspaltung.

 So kündigte die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon binnen zwei Jahren ein zweites Referendum für den Austritt Schottlands aus Großbritannien an. „Das Vereinigte Königreich, für das Schottland 2014 gestimmt hat, existiert nicht mehr“, erklärte sie gegenüber der BBC. Austrittsbestrebungen gibt es auch in Nordirland. Der Chef der irisch-republikanischen Partei Sinn Fein, Declan Kearne, erklärte, der Brexit bedeute, daß die Regierung „kein Recht mehr“ habe, die Interessen von Nordirland zu repräsentieren. 

Sowohl in Schottland (82 Prozent) als auch in Nordirland (55,8 Prozent) hatte es eine große Zustimmung für einen Verbleib in der EU gegeben. In der britischen Enklave Gibraltar stimmten sogar 95 Prozent für „Remain“.

Ein großer Riß geht auch durch die britische Gesellschaft. Einer Umfrage des Marktforschungsinstituts YouGov zufolge stimmten zwei Drittel der 18- bis 24jährigen für einen Verbleib in der EU. Den Ausschlag gab die ältere Bevölkerung, die die Mehrheit stellt. So stimmten laut YouGov 53 Prozent der über 50jährigen für den Brexit. Bei den über 65jährigen waren es sogar 59 Prozent. Und gerade die jüngeren Briten wollen das Abstimmungsergebnis nicht akzeptieren. „Wir sind die Zukunft des Landes, die ältere Generation bestimmt aber unser Leben“, so eine 23jährige Engländerin gegenüber BBC. So wurde dann eine Petition gestartet, wonach es gerade auch angesichts der recht knappen Mehrheit für den Brexit ein zweites Referendum über Austritt oder Verbleib in der EU geben soll. Mittlerweile wurde diese Petition von rund vier Millionen Menschen unterschrieben – doch der überhitzten Debatte über die Zukunft Großbritanniens  folgend hieß es bereits zu Beginn der Woche, daß viele der Onlinestimmen offenbar gefälscht wurden. 

Das hindert den früheren Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der zu den Hauptkämpfern des Brexits gehörte, nicht daran, die Vorwürfe, daß vor allem Ängste vor zu großer Zuwanderung zu dem Abstimmungsergebnis geführt hätten, zurückzuweisen. 

Konservative müssen sich neu aufstellen 

Er habe im Wahlkampf Tausende Gespräche geführt, und das Thema Nummer eins sei gewesen, die Kontrolle über eigene, das Wohl des Landes betreffende Entscheidungen zurückzugewinnen, erklärte Johnson auf seiner Facebook-Seite. Großbritannien bleibe Teil Europas. Es werde keine wesentlichen Änderungen für die britischen Bürger geben – und auch nicht für die Bürger anderer europäischer Staaten, die in Großbritannien lebten. 

Johnson bezog sich hier ausdrücklich auf den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), wonach es auch weiterhin freien Handel und Zugang zu den Märkten geben werde. Der einzige Unterschied sei, daß Großbritannien sich jetzt nicht mehr an die zum Teil sehr restriktiven Vorgaben der EU halten müsse. Auch könne die britische Nationalbank nun eine an den Interessen des Vereinigten Königreichs ausgerichtete Politik betreiben und keine Kompromißpolitik, die versuchen muß, die Interessen aller EU-Länder irgendwie unter einen Hut zu bringen. Wichtig sei, daß die tief gespaltene Bevölkerung, wobei der Riß zum Teil auch durch Familien geht, sich nun wieder zusammenfinde und die Herausforderungen annehme. 

„Großbritannien wird auch weiterhin Großmacht und ein wichtiger Teil Europas bleiben“, erklärte Johnson zuversichtlich. Die britischen Medien spekulieren bereits, daß der 52jährige  beste Chancen habe, neuer britischer Premierminister zu werden. Einer seiner wichtigsten Verbündeten ist der bei den Tories sehr einflußreiche Justizminister Michael Gove. Bei den sechs führenden britischen Buchmachern ist Johnson deutlicher Favorit.

Der zweite Brexit-Protagonist, Ukip-Chef Nigel Farage, zeigte sich ebenfalls zuversichtlich. Auch wenn viele EU-Befürworter, sowohl in der Politik als auch der Bevölkerung, geschockt von dem Wahlausgang seien, sei es doch eine demokratische Entscheidung des britischen Volkes – und diese müsse akzeptiert werden, ganz egal, ob es einem persönlich passe oder nicht. Deswegen müsse die Regierung den EU-Austritt jetzt schnellstmöglich vorantreiben und dürfe diesen nicht durch irgendwelche Tricks verzögern, erklärte Farage. 

Er spielte damit auf Premierminister David Cameron an, der zwar unmittelbar nach dem Brexit-Ergebnis seinen Rücktritt ankündigte, diesen aber erst im Oktober vornehmen will. Auf dem dann stattfindenden Parteitag der Konservativen soll der neue Premierminister gekürt werden. Erst dann soll das offizielle Austrittsgesuch gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags gestellt werden. 

Das Parlament kann den „Wahnsinn“ stoppen

Der ebenfalls unter Druck geratene Labour-Chef Jeremy Corbyn will dagegen nicht zurücktreten, sondern vor allem den von Finanzminister John Osborne ins Spiel gebrachten Nothaushalt bekämpfen. Die Konsequenzen des Brexits dürften nicht auf dem Rücken der Ärmsten ausgetragen werden, so Corbyn.

Doch kommt es überhaupt zum Brexit? Inzwischen mehren sich die Stimmen, das Referendum sei schließlich eine rechtlich nicht bindende Aufforderung an das Parlament, aus der EU auszutreten, das letzte Wort habe aber nach britischem Recht eben das Parlament. Gegenüber dem Guardian erklärte der Labour-Abgeordnete David Lammy: „Wir müssen das nicht tun. Wir können diesen Wahnsinn stoppen und diesen Alptraum mit einer Abstimmung im Parlament beenden.“ Auch der konservative Abgeordnete Liam Fox forderte eine „Zeit des Nachdenkens“:  „Vor diesem Referendum wurde vieles gesagt, über das wir vielleicht noch einmal nachdenken sollten.“