© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Grüße aus London
Aufgeplatzte Eiterbeule
Derek Turner

Seit Jahrhunderten wird die englische Geschichte durch die Geographie regiert – durch das Glück, daß zwischen der Grafschaft Kent und dem Département Pas-de-Calais ein tiefer Wassergraben verläuft. Dieser hielt zwar weder Julius Cäsar noch die Angeln oder Sachsen ab – doch er hielt sie auf und ermunterte sie, nach ihrer Ankunft innezuhalten. 

Seit 1066 gibt es ein zunehmendes Bewußtsein für die englische Einzigartigkeit sowie einen Trend, seinen Blick vom Kontinent abzuwenden, was dann als Lollardismus (die religiösen Lehren des englischen Reformators John Wyclif), als Anglikanismus, als Wortschwall im Elisabethanischen Zeitalter, als Imperialismus, Churchillscher Chauvinismus, als Liberalismus der sechziger Jahre und schließlich als Euroskeptizismus zum Ausdruck kam. Daher war der Brexit vielleicht unvermeidbar – auch wenn niemand ihn kommen sah.

Nachdem die Eiterbeule aufgestochen ist, kommt das Reinemachen, da die Leavers, die niemals damit gerechnet hatten zu gewinnen, sich nun im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit wiederfinden – als überraschte Bannerträger, die plötzlich mit der Leitung eines großen Landes betraut sind – aber weder einen genauen Plan noch einen Anführer haben.

Die Brexiter hassen es, wenn ihnen erzählt wird, was sie zu sagen und zu denken haben.

Was die 17 Millionen Brexit-Befürworter gemeinsam haben, ist ihre Verärgerung über die Immigration und die „Eliten“ sowie die hochgradige Abneigung dagegen, daß ihnen erzählt wird, was sie zu sagen und zu denken haben – insbesondere von europäischen Politikern, die man genauso sieht wie die Päpste des Mittelalters, Napoleon oder Hitler. 

Die Brexiter, vor allem die aus der Arbeiterklasse, empfinden einen tiefen Patriotismus, ein Volksgedächtnis der Kontinuität und der einstigen (kulturellen, industriellen und politischen) Größe, die von Berufspolitikern, die sich gleichzeitig selbst bereichert haben, verspielt wurde. 

Ein Programm, das Patriotismus mit Paternalismus sowie eine Beschränkung der Immigration mit Unternehmensfreundlichkeit kombinierte, leuchtete offensichtlich ein – doch kann ein solches Programm von den zumeist neoliberalen Brexit-Politikern auch umgesetzt werden, deren Aussagen zur Einwanderung nur wenig besser als die Camerons sind? 

Wer auch immer nun an die Macht kommt, wird gegen ausländische und gegen viele einheimische Feinde zu kämpfen haben – und vielleicht auch gegen seine eigenen liberalen Instinkte.