© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Wo bleibt der Aufschrei?
Linksextremismus: Seit die Polizei ein widerrechtlich besetztes Haus geräumt hat, attackieren fast jede Nacht vermummte Chaoten in der Hauptstadt das Eigentum anderer
Martin Voigt

Die junge Mutter will „keinen falschen Eindruck“ erwecken. Ihr Freund sei ein Zugewanderter, erzählt sie gleich zu Beginn. Und sie wären vor kurzem ganz bewußt hierher gezogen, denn hier finde man noch dieses authentische alternative Leben. Ja, in der Rigaer Straße im Berliner Bezirk Friedrichshain wäre eigentlich alles in bester Ordnung, wenn nicht zu nachtschlafender Stunde die „Wannen“ durch die lange, schmale Straßenflucht fahren würden.

Auch am Freitag vormittag blockieren einige der großen Mannschaftswagen der Berliner Polizei die wenigen Parkplätze. In einem weiträumigen Halbkreis sperrt ein Zaun den über und über mit Plakaten und Graffiti verunzierten Eingang zur Hausnummer 94 ab. Niemand kommt durch, der sich nicht als Mieter eines der Dutzenden Wohnungen in dem Altbau ausweisen kann. Nur die Handwerker werden von den voll ausgerüsteten Bereitschaftspolizisten durchgelassen.

„Man soll sie doch einfach in Ruhe lassen“, meint die junge Mutter und blickt vorwurfsvoll zu den Polizisten auf der anderen Straßenseite. Routiniert bugsiert sie ihren Kinderwagen durch eine schwere Eingangstür in einen alten, dunklen Hausflur und angelt sich zwei Einkaufstüten, die das Logo hochpreisiger Bioläden tragen. Ihr Freund gehört vermutlich nicht zu jenen Einwanderern, die indirekt der Auslöser dafür sind, daß die „Rigaer 94“ inzwischen deutschlandweit für Schlagzeilen sorgt.

Die leeren Räume sollen nämlich instand gesetzt und an Asylbewerber vermietet werden,  teilte die Hausverwaltung im Auftrag der britischen Eigentümergesellschaft mit. Eigentlich sollte dieses Vorhaben in dem linksalternativen Szenekiez auf breite Zustimmung stoßen. Eine bessere Gelegenheit, die „No border, no nation“-Parole umzusetzen, gäbe es kaum, doch die gesamte Rigaer Straßenschlucht ist auf Widerstand eingestellt.

Aus so manchem Fenster hängen Bettlaken mit aufgemalten Sprüchen und auch die viele Jahrzehnte alten Holztüren und Häuserwände sind mit Botschaften beschmiert und beklebt: „Hände weg von der R94“, „Love Rigaer, Hate Cops“, „Gegen Rassismus & Verdrängung! Stop Gentrification!“ Die Mieter der „R94“ haben in den vergangenen Jahren viele der leerstehenden Nachbarwohnungen besetzt, wie es in der linksextremen Szene heißt. Der Kiez entwickelte sich sukzessive zu einem Brennpunkt linksextremer Kriminalität.

Bis vor kurzem waren einige Wohnungen komplett überfüllt mit Sperrmüll, Möbeln und Gerümpel. Auch die Treppenhäuser seien verbarrikadiert gewesen, hatte die Polizei bereits im Januar festgestellt. 500 Beamte hatten damals das Haus gestürmt, nachdem in der Nähe ein Polizist angegriffen worden war. Das Gebäude sollte daraufhin aus Brandschutzgründen geräumt werden.

Auf der linksextremen Internetseite indymedia riefen „Autonome Gruppen“ dazu auf, „mit allen Mitteln“ eine Räumung zu verhindern. An diesem „Tag X“ soll Berlin brennen, lautete ihre Parole. Einen Sachschaden in Millionenhöhe sollte es geben (JF 12/16).

„Tag X“ fiel auf die vorletzte Juniwoche. Mit 300 Mann rückte die Polizei an, um den sicheren Ablauf der Räumungsarbeiten zu gewährleisten. Schlagstöcke, Kampfschwerter, eine Pistole und Klappmesser wurden dabei beschlagnahmt. „Wir sichern den Einsatz seit Mittwoch rund um die Uhr“, bestätigte Einsatzleiter Michael Meinecke vor Ort die bisherigen Medienberichte. Auch am Freitag fliegen noch Lattenroste, Matratzen und Computerbildschirme aus den Fenstern der dreißig Wohnungen, von denen eigentlich über zwei Drittel leer stehen sollten. Meterhoch stapelt sich der Sperrmüll im Hinterhof. Schon bald sollen die Wohnungen für die Asylbewerber bezugsfertig sein.

Politik handelt nicht entschieden genug 

Das eigentliche Ziel sei es, zwei Randgruppen gegeneinander auszuspielen, beschwerten sich die Hausbesetzer gegenüber der B.Z., und sie artikulierten ihr Mißfallen auf die für die linksextreme Szene gewohnte Weise. Seit dem Beginn der Räumungsaktion erschüttert eine Serie von Anschlägen die Hauptstadt. In mehreren Bezirken brannten Autos. Allein im Stadtteil Zehlendorf gingen fünf Wagen in Flammen auf, und in Wedding randalierten etwa hundert Vermummte, wie die Polizei berichtete. Sie zerschlugen und besprühten den Eingangsbereich eines Jobcenters, attackierten Banken und warfen Bauzäune und Warnbaken von einer Baustelle auf die Fahrbahn.

Auf der Internetseite indymedia wurden die Anschläge als „Aktionen“ in der „4. Nacht in Folge“ gefeiert. „Solidarische Grüße an die Rigaer“ kamen unter anderem aus Tübingen, Weimar, Regensburg und Bautzen: Anonyme Nutzer posteten auf der Seite Fotos von brennenden Autos, beschmierten Wänden – „R94 bleibt, Bullen verpißt euch“ – und spontan anberaumten Demonstrationen. In den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln demonstrierten etwa 500 Menschen gegen die Teilräumung des besetzten Hauses.

Das Szenekürzel „R94“ landete auch auf der Scheibe des Wahlkreis-Büros des CDU-Abgeordneten Kurt Wansner in Kreuzberg. Wansner ist solche Schmierereien bereits gewohnt. „Das sind kriminelle Gestalten, die sich einbilden, auf Kosten der Allgemeinheit leben zu können“, sagte Wansner der JUNGEN FREIHEIT. Ihre abschätzige Haltung spiegele sich auch im Umgang mit dem besetzten Haus und in der Drangsalierung der Bevölkerung wider. „Das sind ganz normale Autos von Familienvätern, die da brennen“, prangerte der CDU-Politiker die deutschlandweiten Racheakte der Linksextremisten an. Der linke Terror werde von der Politik nicht entschieden genug bekämpft, bekräftigte Wansner die Äußerung des Innensenators Frank Henkel (CDU) im Tagesspiegel.

Henkel hatte moniert, wie wenige politische Reaktionen es auf die Straftaten der vergangenen Tage gegeben habe. „Wir brauchen eine breite Front gegen diese Anschläge. Wenn solche Angriffe von rechts kämen, wäre das Konsens“, sagte Henkel. „Diese Chaoten“ müßten merken, daß sie gesellschaftlich völlig isoliert seien. Auf Twitter verurteilte der SPD-Abgeordnete Tom Schreiber „Haß und Gewalt der linksautonomen Szene“.

„Linke? Terroristen seid     ihr, nichts anderes!“ 

Vielfach verbreitete sich bei Facebook, was ein Familienvater schilderte: „Eine Familienkutsche haben sie abgefackelt. Man sieht hinten noch das verschmurgelte Plastik, was wohl mal ein Kindersitz war.“ Irgendeine Familie in Berlin habe jetzt „einen echt beschissenen Sonntag“. Und weiter: „Linke? Terroristen seid ihr! Nichts anderes. Wer wahllos durch Gewalt seine politischen Ziele verfolgt, terrorisiert die Bevölkerung.“ Er sei „sauer auf Ministerin Schwesig, die noch immer nicht einsehen will, daß es in Deutschland ein Problem mit Linksextremismus gibt“, und frage sich, „warum die Gesellschaft in dieser Stadt noch nicht aufschreit. Das ist keine Folklore oder gesellschaftskritische Rebellion. Das ist Staatsversagen.“

Von Terror möchte der Pressesprecher der Berliner Polizei, Winfrid Wenzel, noch nicht reden, eher von „Resonanzstraftaten“ nach dem Polizeieinsatz gegen die Hausbesetzer. Allgemeine Verunsicherung sei das Ziel der Serientäter, von denen man bisher noch keinen auf frischer Tat ertappt habe. Bisher habe das nötige Quentchen Glück gefehlt, räumte Wenzel gegenüber der jungen freiheit ein. „Aber wir sind gut aufgestellt, werden unseren Fokus bündeln, um entschieden gegen den harten Kern der nicht gesprächsbereiten Hausbesetzer vorzugehen.“ Daß marodierende Banden durch Berlin ziehen, sei kein Zustand. Allerdings handele es sich bei dieser ausufernden Gewalt nicht nur um ein polizeiliches, sondern vor allem um ein politisches und gesellschaftliches Thema.

Tags darauf meldet dann der Tagesspiegel, daß Innensenator Henkel in Absprache mit dem Polizeipräsidenten eine Ermittlungsgruppe einrichten wird. Ein Name für die Soko wird noch gesucht. Unterdessen reiht sich bei der Berliner Polizei Meldung an Meldung: „Lastwagen angezündet, Hausfassade beschädigt, Container brannte, Sachbeschädigung an Jobcenter ...“