© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/16 / 24. Juni 2016

Die triste Zukunft der Nesthocker-Gesellschaft
Soziologie: Der in westlichen Gesellschaften wachsende Trend, daß junge Erwachsene zu Hause wohnen, verstärkt die demographische Krise
Marc Zoellner

Sie brach wie ein Naturunglück über die Industrienationen herein, zerstörte allein in Europa über neun Millionen Arbeitsplätze und schien so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war: Die Finanzkrise von 2008 mag vielen nur noch als düstere Erinnerung im Hinterkopf spuken. Doch die Nachwirkungen dieser weltweiten ökonomischen Katastrophe sind noch längst nicht behoben. 

Tatsächlich machen sich die fatalen Folgen für die Bevölkerung gerade der Industrienationen schleichend erst bemerkbar: Die sozioökonomischen Nachbeben reißen klaffende Lücken in Bestand und traditionellen Aufbau der europäischen, US-amerikanischen und selbst der fernöstlichen Gesellschaften. Arbeits- und Perspektivlosigkeit, eine obskure Mischung aus tatsächlich vorhandener Massenverarmung auf der einen, finanziell ausgepolsterter Bequemlichkeit auf der anderen Seite sowie milieuübergreifender Lethargie bedrohen selbst das Konzept der Familie in fundamentalem Ausmaß. Denn unter den späten Opfern der Weltwirtschaftskrise finden sich besonders viele junge Menschen; wegen ihrer politischen und demographischen Stärke das am wenigsten einflußreiche Glied in der heute von den 68er- und Babyboomergeneration geprägten Gesellschaft.

Gründe sind überwiegend ökonomischer Natur

„Jene, die mit der Verursachung der Wirtschaftskrise am wenigsten zu tun hatten“, warnte die schottische Labour-Vorsitzende Johann Lamont bereits im Dezember 2011 im Interview mit dem Daily Record, „werden nun die schwerste Last zu tragen haben. Das ist nicht zu akzeptieren.“ Wie schwer Lamonts Prognose wiegen würde, sollte jedoch erst ein halbes Jahrzehnt später deutlich werden. Eine im Mai dieses Jahres publizierte Studie des in Washington, D.C. ansässigen Umfrageinstituts Pew Research Center offenbart bemerkenswerte Details: Erstmals seit 130 Jahren, erklärt die renommierte Denkfabrik in ihrem Resümee, lebten in den Vereinigten Staaten 2014 mehr junge Menschen im Alter von 18 bis 34 Jahren im Haushalt ihrer Eltern, als zusammen mit einem Partner in den eigenen vier Wänden.

Für seine Befunde wertete das Pew Research Center sowohl die historischen Daten des United States Census, einer verfassungsgemäß alle zehn Jahre stattfindenden Volkszählung, als auch des seit 2005 jährlich erhobenen American Community Survey aus. Da mindestens ein Prozent der Gesamtbevölkerung stichprobenhaft erforscht worden ist – allein für das Jahr 2014 verglich das Institut die Angaben von fast 650.000 jungen Erwachsenen –, gelten die gewonnenen Ergebnisse als repräsentativ.

Für die Vereinigten Staaten zeigen diese eruierten Daten eine fatale Trendwende: Denn lebten im Jahre 1960 noch rund 20 Prozent der jungen Erwachsenen bei ihren Eltern, während damals gut 62 Prozent ihrer Altersgenossen bereits verheiratet waren, so halbierte sich die Anzahl der 18- bis 34jährigen mit eigenem, familiär begründeten Haushalt bis 2014 nahezu auf 31,6 Prozent. Daheim geblieben sind im gleichen Jahr allerdings bereits 32,1 Prozent der für die Erhebung Untersuchten. Mit 14 Prozent Anteil hatten sich auch die US-amerikanischen Singlehaushalte nahezu verdreifacht; die übrigen 22 Prozent wurden vom Zusammenleben mit Großeltern oder Pflegefamilien, von Wohngemeinschaften sowie Studentenwohnheimen dominiert.

„Es ist wert anzumerken, daß der Gesamtanteil von jungen Erwachsenen, die mit ihren Eltern zusammenleben, nicht 2014 sein Rekordhoch erreicht hatte, sondern um das Jahr 1940 herum“, erklären die Sozialforscher in ihrer Auswertung. „Was sich jedoch stattdessen veränderte, ist der relative Anteil verschiedenster Lebensweisen im jungen Erwachsenendasein; mit einem Niedergang romantischer Verpartnerung mit dem obersten Ziel, zusammenzuziehen, hin zu einer weniger gleichförmigen Liste von Lebensgemeinschaften.“ Mit 35 zu 29 Prozent waren junge Männer im Vergleich zu ihren weiblichen Altersgenossen besonders stark vom Trend, noch bei ihren Eltern wohnen zu müssen, betroffen, während gerade einmal 28 Prozent von ihnen (Frauen: 35 Prozent) im Jahre 2014 bereits in einer Ehe bzw. eheähnlichen Gemeinschaft lebten. Die Gründe hierfür, konstatiert das Pew Research Center, sind tatsächlich überwiegend ökonomischer Natur: Denn waren 1960 noch etwa 93 Prozent aller 25 bis 34 Jahre jungen Männer Vollzeit in den Arbeitsmarkt eingebunden, sank deren Anteil bis 2012 auf lediglich noch 82 Prozent. Auch die durchschnittlichen Stundenlöhne für Männer fielen rapide – allein seit 1980 inflationsbereinigt um gut zwanzig Prozent. 

Daß die Weltwirtschaftskrise eine Hauptschuld für den signifikanten Anstieg noch daheim lebender junger Menschen trifft, beweisen die nackten Zahlen: Mitte des vergangenen Jahrzehnts lag deren Anteil an der Gesamtkohorte noch bei überschaubaren 23 Prozent. Fast zehn Prozentpunkte Wachstum in zehn Jahren sind eine deutliche Warnung.

Jedoch stellt diese Entwicklung keine allein US-amerikanische dar. Eher im Gegenteil, so bestätigen vergleichende Analysen des Pew Research Center, sind die Staaten der Europäischen Union noch weit stärker von den Auswirkungen der Verarmung der jungen Bevölkerungsanteile betroffen als jene in Übersee. Zwischen den einzelnen europäischen Nationen existieren dabei bedeutende Unterschiede.

„In den 28 EU-Mitgliedsstaaten lebt fast die Hälfte (48,1 Prozent) aller 18- bis 34jährigen 2014 noch bei ihren Eltern“, bestätigt das Pew Research Center. Auch hier sind junge Männer mit 54,4 Prozent weit stärker betroffen als junge Frauen (41,7 Prozent). Und auch hier spielen Arbeitsmarktsituation und Arbeitslosenquote eine signifikante Rolle bei der Motivation junger Menschen, aus dem elterlichen Haushalt auszuziehen und ihre eigene Familie zu gründen.

„Das südliche Europa“, berichtet so auch das Rostocker Max-Planck-Institut für demographische Forschung in einer bereits in ihrer im November 2013 erschienenen 29. Ausgabe der Zeitschrift Demographic Research, „ist geprägt von einer relativ hohen Kinderarmut, welche noch ansteigt, wenn diese Kinder in das Teenageralter hineinwachsen (...), während die Kontinentalstaaten ein flacheres Armutsprofil über sämtliche Altersgruppen hinweg aufweisen.“

Mit immerhin noch 23 Prozent junger Menschen, die nicht von daheim ausziehen wollen oder können, befindet sich Deutschland im oberen Mittelfeld. Positive Spitzenreiter in der Familiengründung sind, mit Ausnahme Islands, die nordischen Staaten. Allen voran Dänemark: In Deutschlands nördlichem Nachbarland leben gerade einmal 19 Prozent der jungen Erwachsenen bis 34 Jahre noch bei ihren Eltern. Doch die Nachbeben der Weltwirtschaftskrise drohen, auch hier bald einen Schlußstrich zu ziehen und die positiven Effekte einer historisch stabilen ökonomischen Entwicklung auf die dänische Gesellschaft bald ins Gegenteil zu verkehren. Wie kein anderes europäisches Land ist Dänemark seit 2007 von einer grassierenden Jugendverarmung betroffen. Allein bis 2011 wuchs der Anteil am Existenzminimum darbender Dänen bis 30 um schockierende 17 Prozentpunkte an.

Gegenüber den südeuropäischen Staaten kann sich das Königreich zweifelsohne trotz alledem noch immer sehen lassen. Zwischen Nikosia und Lissabon, wo Jugendarbeitslosigkeitsquoten von bis zu 60 Prozent grassieren, lebt durchschnittlich noch jeder zweite Endzwanziger geschützt im Haus seiner Eltern. Mazedonien trifft es derweil am schlimmsten: Drei von vier jungen Menschen bis 34 Jahre können sich keinen eigenen Haushalt leisten, geschweige denn die Gründung einer eigenen Familie. „Beinahe jeder vierte der jungen Erwachsenen von heute“, prognostiziert das Pew Research Center für die Staaten Europas und Nordamerikas, „wird niemals heiraten.“

Die demographischen Auswirkungen dieser ungebremsten Talfahrt lassen bereits Alarmglocken schrillen: Beispielsweise in Italien, wo Statistiker erstmals seit der Gründung des modernen Nationalstaats im Jahre 1861 mehr Sterbe- als Geburtsfälle registrieren. So wurden im Jahre 2015, berichtete die italienische Tageszeitung La Repubblica kürzlich, gerade einmal noch 488.000 Kinder geboren. Ein Jahr zuvor betrug ihre Zahl noch 509.000. „Wenn wir einfach so fortfahren und die Entwicklung nicht umkehren“, mahnte die italienische Gesundheitsministerin Beatrice Lorenzin im Interview mit selbiger Zeitung, „haben wir in zehn Jahren weniger als 350.000 Geburten pro Jahr und 40 Prozent weniger als noch 2010. Das ist eine Apokalypse.“

Besonders fatal ist der Trend in Südeuropa

Finanzielle Anreize wie beispielsweise eine Verdopplung des monatlichen Kindergelds von derzeit 80 auf künftig 160 Euro pro Monat, so sehen aktuelle Pläne der römischen Regierung vor, sollen diesem fatalen Trend besonders im wirtschaftlich wenig prosperierenden Süden der Mittelmeerhalbinsel ein Ende bescheren. Rund 2,2 Milliarden Euro würde Italien für diese Mehrausgaben allerdings in den kommenden sechs Jahren benötigen – für den bereits heute schon überlasteten Staatshaushalt ein weiterer Mammutposten, dessen Absegnung durch die EU mehr als fraglich erscheint. Trotz alledem scheinen sich andere Wege als weitere Kreditaufnahmen für Italien verschlossen zu haben, um die Langzeitwirkungen der Finanzkrise zumindest noch einzudämmen.

„Unsere derzeitige Situation hat enorme Konsequenzen auf jedwedem Gebiet: der Wirtschaft, der Gesellschaft, dem Gesundheits- und Rentenwesen“, mahnte Lorenzin. „Wir sind nahe der Schwelle der Nichterneuerung, wo die sterbenden Menschen nicht mehr durch Neugeborene ersetzt werden. Wir sind ein sterbendes Land.“

Foto: Erwachsener wohnt immer noch bei den Eltern: „Jeder vierte der jungen Erwachsenen von heute wird niemals heiraten“