© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/16 / 24. Juni 2016

Die AfD-Affäre um Wolfgang Gedeon
Finsterste Abgründe
Marc Jongen

Wolfgang Gedeon, umstrittener AfD-Abgeordneter im Landtag von Baden-Württemberg, hat vergangenen Dienstag erklärt, seine Fraktionsmitgliedschaft ruhen zu lassen. Ein unabhängiges Gutachten soll nun bis zum September klären, ob die gegen ihn erhobenen Vorwürfe des Antisemitismus zutreffend sind. Das entbindet die AfD freilich nicht von einem parteiinternen Klärungsprozeß und einer Aufarbeitung der Problematiken, die mit der Affäre Gedeon ans Licht getreten sind. Die Partei ist gut beraten, diesen Fall zu nutzen, um sich über ihre politischen Leitlinien und ihren grundsätzlichen Kurs zu vergewissern.

Es gehört zur Raison d’Être der AfD, sich gegen den subtilen Terror der Political Correctness zur Wehr zu setzen, mit dem in Deutschland wie in allen sogenannten freien Ländern des Westens die Bürger zur Konformität gezwungen und zum Duckmäusertum erzogen werden. Auf jeden Versuch parteiinterner Unterdrückung der freien Meinungsäußerung reagieren AfD-Mitglieder daher äußerst sensibel. Vieles hätte man Bernd Lucke und seinen Getreuen verzeihen können, nicht aber, daß sie die perfiden Methoden der Political Correctness in die AfD hineingetragen und bestimmte Positionen und Personen innerhalb der Partei zu stigmatisieren versucht haben.

Die „Weltanschauung“, die Gedeon in seiner Trilogie „Christlich-europäische Leitkultur. Die Herausforderung Europas durch Säkularismus, Zionismus und Islam“ präsentiert, ist weit davon entfernt, den Verdacht des Antisemitismus zu zerstreuen.

Wenn AfD-Fraktionschef und Bundesparteisprecher Jörg Meuthen sehr früh die „Totschlagvokabel“ „antisemitisch“ gegen Wolfgang Gedeon verwendet und seinen eigenen Verbleib in der Landtagsfraktion an die Bedingung des Ausschlusses Gedeons aus selbiger gekoppelt hat, dann ist es mehr als nachvollziehbar, daß bei einigen Mitgliedern und Sympathisanten der AfD, denen die Schriften Gedeons nicht im Detail bekannt sind, eine Art Déjà-vu-Erlebnis einsetzte: als sei hier ein Lucke 2.0 am Werk und als feierte die Untugend der „Distanzeritis“ aus einer glücklich überwunden geglaubten Zeit in der AfD unfröhliche Urständ.

Allein, der zweite Blick offenbart ein anderes. Die „Weltanschauung“, die Wolfgang Gedeon in seiner Trilogie „Christlich-europäische Leitkultur. Die Herausforderung Europas durch Säkularismus, Zionismus und Islam“ präsentiert, ist weit davon entfernt, den Verdacht des Antisemitismus zu zerstreuen. Grob gesagt handelt sich dabei um eine geschichtstheologische „große Erzählung“ über die religiöse und politische Entwicklung des Abendlandes, deren polemisch zugespitzte Kurzfassung, in Gedeons eigenen Worten, wie folgt lautet: „Seit Golgatha ist der geistige Hintergrund unserer Geschichte das Ringen zwischen Judaismus und Christentum. Im Mittelalter hat letzteres den Sieg davongetragen, seit der Französischen Revolution gewinnt aber der Judaismus zunehmend die Oberhand. Nun versucht der Zionismus, die politisch aggressive Form des heutigen Judaismus, die Begriffe Antisemitismus und Antijudaismus zu vermischen, und die von ihm gesteuerten Medien gehen daran, aus der Geschichte des christlichen Abendlandes eine ‘antisemitische Kriminalgeschichte’ zu machen. Dies ist ein Frontalangriff des Zionismus auf die Wurzeln der europäischen Kultur!“

Den Einfluß des „Judaismus“ wittert Gedeon mit dem Instinkt eines Großinquisitors hinter jedem gedanklichen oder politischen Schritt, der die moderne Welt mit ihrem säkularen Rechtsstaat und ihrer Demokratie, ihrer liberalen Marktwirtschaft und ihren freien, mündigen Bürgern aufzubauen geholfen hat. Ein als „wesenhaft antijudaistisch“ begriffenes Christentum ist für ihn das Maß aller Dinge, alle Abweichungen davon wertet er als historische „Degenerationen“. Überall im politischen Weltgeschehen sieht er „zionistische und freimaurerische Cliquen“ am Werk, die nicht weniger als die Weltherrschaft anstreben und denen buchstäblich jedes Mittel dazu recht ist. Mit einem Wort: Der Mann ist geradezu der Prototyp dessen, was man gemeinhin einen „antisemitischen Verschwörungstheoretiker“ nennt.

Nun wagen wir – mit dem AfD-eigenen Mut zur Wahrheit – einmal ein Gedankenexperiment: Könnte es nicht sein, daß Gedeon recht hat und tatsächlich so etwas existiert wie eine zionistisch-freimaurerische Weltverschwörung? Was, wenn diese genau so funktioniert wie von Herrn Gedeon beschrieben? Welche Möglichkeit hätten wir dann, der furchtbaren Wahrheit auf die Schliche zu kommen und vor allem – etwas dagegen zu unternehmen? Kann denn nicht alles, was jetzt gegen Wolfgang Gedeon in die Wege geleitet wird, gerade als Beweis für die Richtigkeit seiner Thesen gewertet werden?

Solche Überlegungen mögen gefährlich erscheinen, sind aber äußerst lehrreich, denn sie führen geradewegs in die finstersten Abgründe des Gedeonschen Verschwörungskosmos hinab. Wenn diese Expedition mit den nötigen moralischen und intellektuellen Sicherungsgurten durchgeführt wird, die die Rückkehr ans helle Licht der Vernunft gewährleisten, dann gibt es keinen besseren Weg, sich über die moralisch und intellektuell fatalen Konsequenzen der Gedeonschen Verschwörungslogik zu unterrichten.

Blicken wir also unter der hypothetischen Annahme einer zionistisch-freimaurerischen Weltverschwörung auf die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“, eine von der seriösen historischen Forschung als Fälschung klassifizierte antisemitische Hetzschrift, in der „die Juden“ ihre angeblichen Pläne zur Weltherrschaft in vermeintlich eigenen Worten offenlegen. Auf die Frage „Sind sie echt?“ müßten wir unter der hypothetisch eingenommenen verschwörungstheoretischen Verdachtsperspektive in etwa dies antworten: „Der arglose, naive und vertrauensselige Deutsche wird es bezweifeln. In der Geradheit seiner Seele kann er sich nicht vorstellen, daß soviel List, Tücke und Bosheit in Menschenhirnen wohnen könnte. Und doch sollten ihn die bitteren Erlebnisse der letzten Jahrzehnte anregen, seine Vorstellungen von allgemeiner Menschenliebe und Völkerverbrüderung einer gründlichen Nachprüfung zu unterziehen. Er wird den Gedanken zurückweisen, als ob es eine Verschwörung geben könnte, die mit allen Mitteln der List und Gewalt eine geistige und materielle Unterjochung der ganzen Menschheit erstrebt.“

Dieses Zitat entstammt nicht Wolfgang Gedeons Buch über „Verschwörungspolitik“, sondern der Einleitung zu den „Protokollen“ aus dem Jahr 1931 von Theodor Fritsch, seines Zeichens Verfasser des „Antisemiten-Katechismus“ und Reichstagsabgeordneter der „Nationalsozialistischen Freiheitspartei“, einer Vorläuferpartei der NSDAP.

Noch unmißverständlicher äußerte sich NS-Chefideologe Alfred Rosenberg zu dem Thema: „Das 19. Jahrhundert bedeutet die Vorbereitung, das jetzige die fast gelungene Vollendung eines uralten jüdischen Strebens, das vom ‘Du sollst alle Völker fressen, die dein Gott dir geben wird’ herüberreicht bis in die Gegenwart. Instinkt, uralter Wüsteninstinkt wirkte hier mit, rassische Inzucht und eine Jahrtausende alte Erziehung, einen Plan durchzuführen, welcher in den ‘Protokollen der Weisen von Zion’ 1897 zu Basel niedergelegt wurde. Ihr Erscheinen hat Millionen von Europäern die Schleier von den Augen gerissen. Es ist Zeit, daß die Welt erwacht und den Zerstörern des völkischen Staatsgedankens ein für allemal das Handwerk legt.“

Auf welche Weise den Juden „das Handwerk gelegt“ wurde, muß hier nicht weiter ausgeführt werden. Man darf voraussetzen, daß Wolfgang Gedeon die Wirkungsgeschichte der „Protokolle der Weisen von Zion“ als Rechtfertigungsdokument für die nationalsozialistischen Greueltaten bekannt ist. Das hindert ihn nicht daran, in aller schein-objektiven Seelenruhe über die Frage ihrer Echtheit zu räsonieren und am Ende zu dem Schluß zu kommen, sie seien „zwar moralisch die unterste Schublade“, aber „intellektuell hochwertig, ja genial“. Schon darum könnten sie keine Fälschung des zaristischen Geheimdienstes sein; „mutmaßlich“ seien sie echt.

Anders als Adorno meinte, kann man nach Auschwitz zwar irgendwann auch wieder Gedichte schreiben, nie wieder aber einen Satz wie diesen von Wolfgang Gedeon: „Wie der Islam der äußere Feind, so waren die talmudischen Ghetto-Juden der innere Feind des christlichen Abendlandes.“ Dergleichen Sätze sind eben nicht mehr losgelöst von der Tatsache schreib- und lesbar, daß die „talmudischen Ghetto-Juden“ Europas von den Nazis sämtlich ermordet wurden, sofern sie nicht rechtzeitig fliehen konnten. Das ist der springende Punkt, der Gedeons auf die akademische Unterscheidung zwischen „Antizionismus“, „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“ pochende Rechtfertigungsstrategie ins Leere laufen läßt.

Eine unglückliche Formulierung kann jedem Autor einmal passieren. Beim bekennenden „Antizionisten“ Wolfgang Gedeon schimmert aber an zu vielen Stellen eine unheimliche Nähe zur finstersten Zeit deutscher Geschichte durch, als daß noch an eine absichtslose Häufung unglücklicher Zufälle zu glauben wäre. So bringt er es fertig, die heutige Abwesenheit eines „Führers“ – nicht etwa nur neutral von „Führung“ – zu beklagen und die Schuld daran niemand anderem als den Juden, pardon, den Zionisten in die Schuhe zu schieben. Mit Blick auf die „Weisen von Zion“ schreibt er: „Machttaktisch geht es also darum, die Völker, die man beherrschen will, führerlos zu machen. Wenn man sich heute umschaut, hat man hier schon viel erreicht. Die meisten Völker der westlichen Zivilisation kann man inzwischen als weitgehend führerlos bezeichnen. (…) Im Zuge einer generellen Dämonisierung des Dritten Reiches hat man den Begriff des Führers insgesamt in Mißkredit gebracht, so daß ‘Führerlosigkeit’ inzwischen als angestrebtes Ideal einer modernen Demokratie gilt.“

Die Obszönität solcher Aussagen ist evident. Hier schreibt sich jemand, in Inhalt und Duktus so gut wie unverhüllt, in die Tradition antisemitischer Hetzliteratur von Houston Stewart Chamberlain über Alfred Rosenberg bis hin zu Horst Mahler ein.

Daß die AfD die deutsche Erinnerungskultur über die Zeit des NS hinaus erweitern will, heißt dezidiert nicht, daß sie es tolerieren darf, wenn in ihren Reihen die Verbrechen des NS-Regimes relativiert, verharmlost oder gar verklausuliert gerechtfertigt werden.

Auch eine stolze patriotische Partei – ja, gerade eine stolze patriotische Partei – darf keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß sie zur Verantwortung Deutschlands für seine gesamte Geschichte – im guten wie im bösen – steht. Daß die AfD die deutsche Erinnerungskultur über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus erweitern will und eine zum „Schuldkult“ überhöhte Fixierung auf den Holocaust ablehnt, heißt dezidiert nicht, daß sie es tolerieren darf, wenn in ihren Reihen die Verbrechen des NS-Regimes relativiert, verharmlost oder gar verklausuliert gerechtfertigt werden. 

Wenn die Partei es zuläßt, daß das deklariert antijudaistische, vulgo antisemitische, Weltbild eines Wolfgang Gedeon Teil ihres akzeptierten Meinungsspektrums wird, dann wird sich das Gift der Judenfeindschaft durch all ihre Positionen hindurchfressen. Nie wieder wird sie dann die leiseste Kritik an der Siedlungspolitik Israels, an der Machtpolitik der USA oder an den schädlichen Wirkungen des internationalen Finanzkapitals äußern können, ohne sofort und aufs Heftigste antisemitischer Hintergedanken bezichtigt zu werden – und zwar in diesem Falle auch zu Recht! Undenkbar, gewisse grundgesetzwidrige Erscheinungsformen des Islam in Deutschland noch glaubhaft in die Schranken zu weisen mit einem Wolfgang Gedeon im Hintergrund, der den Islam in engste Verbindung zum „Judaismus“ bringt und im Kampf gegen beide die große Kontinuität abendländischer Geschichte sieht.

In einer solchen Situation dem politischen Gegner den billigen, illusionären Triumph zu lassen, er habe einen Sieg errungen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern im Gegenteil von Souveränität einer Partei. Wir selbst wissen: Wir sind uns treu geblieben. 






Dr. Marc Jongen, Jahrgang 1968, ist stellvertretender Sprecher der AfD Baden-Württemberg und promovierter Philosoph (Porträt auf Seite 3).

 https://marcjongen.de

Foto: Holocaust-Mahnmal vor Brandenburger Tor und Reichstagskuppel: Die ganze Geschichte soll es sein