© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/16 / 24. Juni 2016

Berlin, wie haste dir verändert!
Polemik: Die deutsche Hauptstadt blamiert sich, wo sie nur kann, und alle zucken mit den Schultern
Ronald Berthold

Ach, was war das früher schön. Wenn wir erzählten, daß wir aus Berlin kämen, ernteten wir begeisterte Blicke. Mit stolzgeschwellter Brust schauten wir auf die deutsche Provinz herab. Und Provinz, das war alles, was nicht Berlin war. Heute ist Berlin Provinz – und zwar totale. Vielleicht nicht unbedingt kulturell, aber politisch, administrativ und sowieso und überhaupt.

Im Boden möchte man versinken, wenn man erwähnt, daß man aus einer Stadt kommt, in der jetzt sogar nicht einmal mehr klar ist, ob die Wahlen stattfinden. Natürlich können Sie jetzt einwenden, die ändern doch ohnehin nichts. Sonst wären sie ja verboten … Schon gut. Aber es geht vor allem um den Grad der Blamage. Daher noch einmal ganz deutlich und zum Wachwerden: „In Berlin fallen die Wahlen aus.“ Hallo? Unglaublich, was? Zumindest wird das ernsthaft diskutiert. Warum sollen sie verschoben werden? So recht kann das eigentlich niemand erklären. Dabei treffen es zwei Worte am besten: absolute Unfähigkeit.

Es ist alles nur noch peinlich. Seit geraumer Zeit kann sich kaum jemand in Berlin an-, ab- oder ummelden. Wer aufs Bürgeramt geht, der braucht Engelsgeduld und eine völlig ungerechtfertigte Portion Lokalpatriotismus. Sonst wird er zum Amokläufer. Denn meist geht er nach Stunden, manchmal nach Tagen, genau wie er gekommen ist: mit dem Wunsch, endlich einen neuen Paß zu erhalten. Aber ohne Paß und auch ohne Aussicht darauf. Viele versuchen es über Monate, manche inzwischen über Jahre. Wer nicht angemeldet ist, kann übrigens auch nicht wählen. Und dann streikt noch die neue Software. Berliner Steppkes antworten schon auf die Frage, was sie einmal werden wollen: „Schwarzhändler für Behördentermine!“ So weit ist es gekommen.

Tatsächlich ist das nach Drogendealer inzwischen eines der lukrativsten Geschäfte der Hauptstadt. Allerdings vom Staat deutlich stärker bekämpft. Wer sich diesen pfiffigen Gestalten anvertraut, bekommt tatsächlich einmal einen Beamten zu Gesicht. Wie die das konkret machen: Nischt jenauet weeß man nich. Auf jeden Fall klappt es.

Seit einiger Zeit will der Senat gegen diesen Schwarzhandel vorgehen. Er will also eine wohltuende Folge seiner völlig verfehlten Politik bekämpfen. Das einzige, was überhaupt noch funktioniert. Gott sei Dank stellt sich die Landesregierung dabei genauso geschickt an wie bei fast allen anderen Vorhaben. Das heißt: Der Termindealer lebt noch. Und damit die einzige Hoffnung auf neue Papiere.

Der nächste Gag ist, daß es in den Bezirken tatsächlich jeweils einen „Stadtrat für Bürgerservice“ gibt. Das ist in etwa so, als würde sich Saudi-Arabien eine Frauenbeauftragte halten. Der Pankower Vertreter dieser Sorte denkt, er könnte punkten, indem er ehrlich zugibt, das Ganze sei keine „bürgerfreundliche Dienstleistung“, und „die aktuellen Wartezeiten für einen Termin ermöglichen es dem Bürger nicht, gesetzlich vorgeschriebene Fristen einhalten zu können“. Danke, lieber Herr Stadtrat, aber so schlau sind wir alleine.

Langsam wird es wie in der DDR. Man hat keinen Paß und darf nicht ausreisen. Man hat eine Regierung und darf nicht wählen. Der Unterschied: Während die Kommunisten das damals absichtlich machten, geschieht das heute aus Versehen. Wie bitte? Aus Versehen? Wie kann denn so etwas versehentlich passieren? Auch da zucken alle mit den Schultern. Es ist, wie es ist.

Schulterzuckendes Einrichten in einem failed state gehört inzwischen zur nötigsten Eigenschaft eines Berliners. Sonst wird er verrückt. Und so kratzt er sich auch nur noch verwundert am Hinterkopf, daß die Zustände in den Bürgerämtern in den Zeitungen zwar thematisiert, aber nur die Warteschlangen vor dem Lageso skandalisiert werden. Er nimmt das mehr oder weniger unaufgeregt zur Kenntnis. Resignation ist eingezogen.

Als Peter Fox vor acht Jahren über seine Geburtsstadt sang, „Guten Morgen, Berlin, du kannst so häßlich sein, so dreckig und grau, du kannst so schön schrecklich sein“, da konnte der Hip-Hopper noch nicht wissen, daß alles noch viel schrecklicher geht. Es ist so ähnlich wie mit Klaus Wowereit, der vor einer halben Ewigkeit von den Wahlplakaten sprach: „Wählt mich, es könnte schlimmer kommen.“ Heute sagen viele: „Ich wählte ihn, und es kam schlimmer.“

Was von Wowi bleiben wird, ist sein „arm, aber sexy“. Aber wer nun glaubt, es liege an der Armut der Stadt, daß fast alles schief läuft, ist ebenso schief gewickelt. All das hat viel mehr mit Armseligkeit zu tun. Esprit wollen wir von dieser biederen und blassen Regierungstruppe ja gar nicht erwarten. Aber vielleicht könnte mal jemand anfangen, die Ärmel hochzukrempeln. Doch ein sozialdemokratischer Regierender Bürgermeister ohne Abitur, von dem irgendwie jeder den Eindruck hat, er hätte nicht einmal den Einstellungstest in einer beliebigen Senatsverwaltung bestanden, und ein CDU-Innensenator ohne jeden Mut, verbreiten vor allem den Eindruck, damit beschäftigt zu sein, permanent die eigenen Defizite zu verstecken.

Und dann kommen die politischen obendrauf. Hierbei brauchen wir wirklich gar nicht über Berliner Verkehrspolitik zu reden. Da denken sowieso alle an den Großflughafen, der vergangene Woche vierjähriges Jubiläum feierte. Korrekt ausgedrückt: Vor vier Jahren hätte er eröffnet werden sollen. Und darüber ist nun wirklich alles gesagt, und wir möchten unsere Leser an dieser Stelle nicht mit diesem alten Hut langweilen. Aber in Berlin gibt es nicht nur Flug-, sondern auch Autoverkehr.

Wer demnächst einmal die Hauptstadt besucht, sollte sich den Spaß machen und in eine Kfz-Werkstatt gehen. Der Meister zeigt dann gern den Schrott-Container. Darin liegen fast nur Federn und Stoßdämpfer. Alle gebrochen beziehungsweise ruiniert. Der Zustand der Berliner Straßen – Motto: „Loch an Loch und hält doch“ – ist ein riesiges Geschäft für die Mechaniker. Und die Ursache für unbändigen Zorn der Autofahrer.

Immerhin, daß die an jeder Ampel stehen, ist diesmal kein Versehen, sondern wirklich Absicht. Die „Rote Welle“ soll die Berliner ermuntern, auf die Öffis umzusteigen. Doch dort wird man von Bettlern, Musikanten, Obdachlosenzeitungsverkäufern oder einfach nur armen Irren genervt. Inzwischen auch regelmäßig beklaut, geschlagen, vergewaltigt oder sogar getötet. Wer nicht von jungen Männern, über deren Herkunft und Religion nicht gesprochen werden darf, gemeuchelt wird, kann neuerdings von herabfallenden Kacheln erschlagen werden. In den U-Bahnhöfen regnet es seit einiger Zeit Fliesen, wenn es oberhalb der Katakomben zuviel Wasser geregnet hat. Dann, so sagen sich die Motorisierten, doch lieber die rote Ampel.

Auch die meisten Schulen hält nur noch der Anstand zusammen; der Putz blättert, die Klos sind notorisch verstopft; selbst die Kreide – in vielen anderen Bundesländern längst abgeschafft – wird zuweilen knapp. Da lernen manche Kinder in Afrika in schönerer Umgebung als die Berliner Gören. An Stammtischen wird schon gescherzt, daß die Gelder aus dem Länderfinanzausgleich eigentlich besser „Entwicklungshilfe“ genannt werden sollten. Bis dann irgendeiner fragt: Wo ist jetzt der Scherz?

Früher, da war dieses „Berlin, wie haste dir verändert!“ immer auch als Kompliment gemeint. Eine Stadt, die sich stets neu erfindet, die niemals schläft. Heute ist ein leichtes Stöhnen bei dem Satz nicht zu überhören. Und nicht nur Nostalgiker sagen: Damals hatten wir Harald Juhnke und Günter Pfitzmann, heute Kurt Krömer. Und die wenigen, die den Namen ihres Regierenden Bürgermeisters überhaupt kennen, scheuen jeden Vergleich mit Willy Brandt oder Richard von Weizsäcker. Das würde nur eine weitere Depression verursachen.

Für all das Chaos will natürlich niemand verantwortlich sein, und deswegen redet man darüber auch nicht. Seit 25 Jahren waren SPD, CDU, Grüne, Linke und FDP an den Regierungen beteiligt, die SPD seit der Wiedervereinigung sogar ununterbrochen. Kein Wunder, daß sich kaum ein Politiker über die Dritte-Welt-Metropole Berlin ereifern möchte, dann müßte er ja seine eigene Branche in die Pfanne hauen. Da sitzen alle in einem Boot.

Und so wird der komplette Niedergang einer einst stolzen Stadt kein Wahlkampfthema sein. Falls Wahlkampf denn überhaupt stattfindet. Ohne Wahlen auch kein Wahlkampf. Und jetzt dürfen wir natürlich noch einmal fragen, ob die überhaupt etwas ändern würden, also Berlin retten könnten …

Foto: Berliner Bär: Der Niedergang einer einst stolzen Stadt wird kein Wahlkampfthema sein – falls die Wahlen im September überhaupt stattfinden