© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/16 / 24. Juni 2016

„Eltern erziehen ihre Kinder nicht mehr“
Droht die kommende Generation zu scheitern? Droht unsere Gesellschaft in die Hand von „Tyrannenkindern“ zu fallen? Mit ihrem neuen Buch hat die Wiener Therapeutin Martina Leibovici-Mühlberger eine Debatte angestoßen
Moritz Schwarz

Frau Professor Leibovici-Mühlberger, der Autor und Kinderpsychologe Michael Winterhoff löste 2008 eine Debatte aus, als er uns erklärte: „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“. Sie warnen nun davor, was passiert, „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden“.

Martina Leibovici-Mühlberger: Ja, denn inzwischen treten immer mehr dieser Kinder ins Berufsleben ein – und kollidieren regelrecht mit einer Realität, auf die sie nie vorbereitet wurden. 

Sie sagen, „auf diese nächste Generation können wir nicht mehr zählen“. 

Leibovici-Mühlberger: So ist es, denn sie hat nie gelernt sich einzuordnen, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Diese Kinder sind oft nicht belastbar. Schon vom Abitur mußten manche sich erst mal mit einem Jahr Auszeit erholen. Als Berufsanfänger kommen sie dann zu spät zum Dienst, am dritten Tag vielleicht schon gar nicht mehr, oder etwa als Servicekraft unzureichend gepflegt. 

Klingt allerdings mehr nach den „Gammlern“ und Leistungsverweigerern der siebziger Jahre als nach „Tyrannen“.

Leibovici-Mühlberger: Die „Tyrannenkinder“ sind nur eine Gruppe, die ich für den Buchtitel herausgehoben habe. Es gibt viele Arten von Problemkindern, die unsere Gesellschaft produziert. Die Tyrannenkinder sind zum Beispiel nicht in der Lage zu akzeptieren, daß auch einmal jemand anders als sie im Mittelpunkt steht. Stets sind sie unzufrieden und auf Widerstand gepolt. Jetzt wollen sie ein Eis, bekommen sie das, wollen sie es schon nicht mehr, sondern etwas anderes. Ebenso steigt aber auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die schon völlig frustriert oder gar depressiv sind. Zudem haben immer mehr Kinder physische Probleme. Vor allem übergewichtige Kinder – ja gar Kinder mit Diabetes – werden immer mehr: In Österreich haben bereits dreißig Prozent ein zu hohes Gewicht. Das bedeutet ein erhöhtes Risiko, später einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden – aber nicht mit sechzig, siebzig, achtzig, sondern mit vierzig! Ob seelisch oder körperlich, immer mehr Kinder der nächsten Generation werden später, wenn sie eigentlich einmal die Leistungsbringer der Gesellschaft sein müßten, statt dessen deren Leistungsempfänger sein.

Wir können also nicht deshalb „nicht auf sie zählen“, weil sie nicht wollen – sich verweigern –, sondern weil sie nicht können?

Leibovici-Mühlberger: Richtig, allerdings wollen sie zum Teil auch nicht. Denn wer damit aufgewachsen ist, daß sich alles um ihn dreht, er immer alles gleich bekommt, der versteht es nicht, wenn eines Tages plötzlich Leistung von ihm verlangt wird. Der fühlt sich dem dann nicht gewachsen, fühlt sich im Stich gelassen. Ich erlebe viele solche Jugendliche in meiner Praxis. Oft haben sie keine Träume und Pläne. Warum? Weil sie sich nichts zutrauen. Statt dessen lautet ihr „Karriereplan“ zu erben oder sich vom Staat aushalten zu lassen.

Woher rührt das Problem?

Leibovici-Mühlberger: Viele Eltern wagen nicht mehr, ihre Kinder zu erziehen.

Warum nicht?

Leibovici-Mühlberger: Ich muß etwas ausholen, denn dieser Prozeß hat schleichend begonnen. Spätestens mit dem Fall der Berliner Mauer sind wir der Vorstellung erlegen, Freiheit und Individualität hätten sich als historisch richtig erwiesen. Und ja, diese Werte kommen ja auch unheimlich charmant daher. Sie sind vielleicht das Letzte, woran wir noch glauben. Und wenn man an etwas glaubt – dann will man in dieser Hinsicht auch das Beste für seine Kinder. Das heißt, wir setzen in der Erziehung immer mehr auf persönliche Freiheit und die Entwicklung des individuellen Persönlichkeitspotentials. So wirkt unsere kollektive, normierende Gesellschaftsüberzeugung in die Erziehung unserer Kinder hinein.

Also erziehen wir unsere Kinder doch? 

Leibovici-Mühlberger: Ja und nein, denn immer mehr Eltern wagen unter dem Eindruck dieser Überzeugungen nicht mehr, ihren Kindern Grenzen zu setzen. Denn sonst könnten sie ja deren Entwicklung – wie ich das in meiner Praxis immer wieder zu hören bekomme – „beschädigen“. Sie fürchten, ihr Kind seiner Freiheit zu berauben,  ihr Kind zu einem „geknickten Menschen“ zu machen. So mutieren Eltern oft lieber zu Beratern ihrer Kinder, wenn nicht gar zu deren „Freunden“, als Autoritäten im wohlverstandenen Sinne zu sein. Und gleichzeitig unternehmen sie alles, um das Potential ihrer Kinder zu fördern – ja, sie entfesseln einen regelrechten Förder-Wahnsinn! Bis hin zur Beschallung des Ungeborenen im Schwangerenbauch mit Fremdsprachen oder dem Schwimmkurs für Neugeborene von sechs Wochen, um bloß nicht das Zeitfenster für die Entwicklung zum „Aquamenschen“ zu versäumen.

Bitte?

Leibovici-Mühlberger: Ja, viele Eltern wollen auf keinen Fall irgend etwas, was in ihrem Kind als Talent angelegt sein könnte, vernachlässigen. Was heißt „wollen“ – sie haben das Gefühl, sie dürfen nicht! Denn auf ihnen lastet der soziale Druck, ließen sie dies zu, handelten sie unverantwortlich. Daß solche Vorstellungen übrigens inzwischen von einer regelrechten Förder-Industrie beständig genährt werden, machen sie sich nicht klar. Dabei ist „Kindheit“ heute längst auch ein lukrativer Geschäftszweig. 

Führt all das wenigstens zu den gewünschten Ergebnissen?

Leibovici-Mühlberger: Nein. Und zwar weil all das an der Entwicklungspsychologie der Kinder vorbeigeht. Denn diese versäumen dabei, wesentliche Kompetenzen und Sekundärtugenden zu erlernen – etwa Konzentration, Aufmerksamkeit, Selbstorganisation, Beharrlichkeit. Alles was ihnen Selbständigkeit verleiht – weil sie stets als Prinz oder Prinzessin behandelt worden sind. 

Übertreiben Sie jetzt nicht? 

Leibovici-Mühlberger: Keineswegs, lieber Herr Schwarz, wenn Sie wüßten! Kindergärtnerinnen klagen mir: „Ich habe 25 Prinzen und Prinzessinnen in der Gruppe, die ich alle gefälligst individuell fördern soll. Ohne daß die Kinder irgendwelche sozialen Kompetenzen im Hinblick auf Gemeinschaft haben.“ Lehrer sagen mir: „Früher hatte ich drei bis vier Problemkinder pro Klasse. Heute habe ich eine gute Klasse, wenn drei bis vier Kinder keine Probleme haben!“ Immer mehr Kinder, bestätigen mir Pädagogen, sind schlicht nicht beschulbar, weil sie nicht in der Lage sind, sich einzuordnen und aufmerksam zu sein. Oder sie sind gekränkt, wenn ein anderes Kind mal mehr Aufmerksamkeit erhält. Wenn ich hochrechne, was ich zu hören bekomme, dann werden sich künftig fast zwanzig Prozent der Abiturienten im Arbeitsleben nicht zurechtfinden oder ein Studium absolvieren können – da sie nicht fähig sind, sich zu kontrollieren und zu managen. Ebenso werden sie keine dauerhafte Beziehung eingehen können. Wenn aber Lehrer auf diese verhängnisvollen Defizite aufmerksam machen und versuchen gegenzusteuern, werfen ihnen einige Eltern gar noch vor, sie würden die Kinder demotivieren. 

„Spiegel“, „FAZ“, „Zeit“, „Welt“, „Süddeutsche“ oder Deutschlandfunk – Ihr Buch wird lebhaft diskutiert. Warum eigentlich? Denn weder ist das Phänomen Tyrannenkinder neu, noch Ihr Hinweis, daß Eltern Autorität und Kinder Grenzen brauchen.

Leibovici-Mühlberger: Ich glaube, mein Buch trifft einfach einen Nerv. Außerdem verstehen die Leser offenbar, daß es im Grunde ein optimistisches Buch ist, weil es Auswege aufzeigt. Das ist, was die Menschen suchen, nicht nur eine Analyse, sondern auch Lösungen. 

Die wie aussehen?

Leibovici-Mühlberger: Womit wir es zu tun haben ist nicht nur die „Erziehungsbefangenheit“ der Eltern, sondern auch eine Führungssuche dieser beim Kind. Viele Eltern schildern mir, wie sie ihr Kind beobachten, um herauszufinden, was es wünscht. Häufig können Eltern dann die Wünsche, die meist vom kindlichen Narzißmus geprägt sind, von den wahren Bedürfnissen des Kindes nicht unterscheiden. Ganz wichtig ist aber zu erkennen, daß diese sogar meist in Widerspruch zueinander stehen. Die Folge ist, daß sich bei vielen Eltern ein unsicheres Auftreten gegenüber dem Kind einstellt, wodurch sie wiederum ihre Glaubwürdigkeit vor dem Kind verlieren. Das aber ist fatal, denn eigentlich sucht das Kind Orientierung und erwartet glaubwürdige Autorität und Führung, auf die es sich verlassen kann. 

Wie aber finden unsichere Eltern zu Autorität und Führung zurück?

Leibovici-Mühlberger: Für viele Eltern fangen die Probleme damit an, daß  für sie selbst „Autorität“, „Führung“ und „Grenzen“ negativ belegt sind und sie davor zurückschrecken. Deshalb ist es wichtig, klarzumachen, daß es hier nicht um Gehorsam und Autoritarismus geht. Daß ich nicht einer schwarzen Pädagogik das Wort rede. Oft werde ich gefragt: „Soll man also wieder streng sein?“ Wenn ich dann verneine, wundern sich viele und halten das für einen Widerspruch. Das ist es aber nicht!

Aber wie sollen die Leute das verstehen – in einer Gesellschaft, in der jede Form von Autorität sehr schnell als autoritär verunglimpft wird?

Leibovici-Mühlberger: Genau, das ist das Problem! Deshalb ist es so wichtig, das ganz genau herauszuarbeiten! Autorität bedeutet nicht Machtausübung, sondern Führungsverantwortung. Das heißt, nicht einfach zu befehlen, sondern die Fähigkeit zur überzeugenden Anleitung zu entwickeln. Dabei setze ich meinem Kind altersadäquate Grenzen, weil ich anders als dieses Lebenserfahrung habe und vorausschauend denken kann. Ich lasse meinem Kind aber innerhalb dieser Grenzen einen gewissen Spielraum. Wenn mein Kind also, um ein Beispiel mit meiner eigenen Tochter zu nennen, bei Minusgraden Sandalen zum Spaziergang anziehen will, dann setze ich durch, daß das nicht in Frage kommt und Winterstiefel getragen werden. Welche Stiefel aber, das überlasse ich meinetwegen meinem Kind, auch wenn es etwa eben jene anziehen will, die ich farblich ganz scheußlich finde.

Sie sprachen vorhin vom Jahr des Falls der Berliner Mauer als zeitlicher Markierung für den Beginn der Fehlentwicklung. Wurzelt aber, was Sie kritisieren, nicht eher in der Epoche von 1968? 

Leibovici-Mühlberger: Ich würde sagen, die Wurzel liegt vielmehr noch „eine Etage“ tiefer: Das Versprechen von Individualität und persönlicher Befreiung ist ja an sich nicht verkehrt. Meine Kritik daran ist nur, daß wir diese Werte nicht sozial, sondern narzißtisch leben. Und die Ursache dafür ist, daß wir quasi auf eine Abart des amerikanischen Traums setzen. Aus dem „Jeder kann alles erreichen“ ist ein „Jeder ‘muß’ alles erreichen“ geworden – so meinen wir. Denn es gilt das „Yolo“-Prinzip: „You only live once!“ Also: „Man lebt nur einmal!“ Das hört sich an, wie ein Appell zur Selbstverwirklichung, tatsächlich aber steckt dahinter die Gesetzmäßigkeit einer beinharten Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft. Im Grunde haben wir es mit einer Täuschung zu tun: Vordergründig ist von Glück, Selbstverwirklichung und Lebensfreude die Rede, nicht von Geld und Status. Tatsächlich aber befinden wir uns im Um- und Ausbau von einer Marktwirtschaft hin zu einer Markt-Gesellschaft, in der sich jeder wie ein optimiertes Produkt anpreisen und vermarkten muß; die zur Gigantomanie des Egos führt und zu „Projektkindern“, die im Grunde die Ausweitung des Narzißmus der Eltern darstellen. Die Eltern wollen ihre Kinder mit all ihren Förder-Anstrengungen auch im sozialen Rattenrennen um Jobs und Status ganz vorne plazieren. Was letztlich aber kein Vorwurf an die Eltern sein soll, die nur der subkutanen Logik unserer Gesellschaft folgen. Und die pflegt unter all den postmaterialistischen und individualistischen Werten eben eine durch und durch kapitalistische Logik. Nun ja, schließlich muß man sich diese Form angeblicher Selbstverwirklichung finanziell auch leisten können. Es ist es eben teuer, wenn das Kind später einmal zur Bewältigung seines Berufsstresses nach Bali zum Yoga-Seminar fliegen können soll. 

Was ist die Alternative?

Leibovici-Mühlberger: Ich frage Sie: Welches gemeinsame Erlebnis bringt mich meinem Kind näher: zusammen ins Kino zu gehen, XXL-Popcorn zu kaufen und zwei Stunden schweigend nebeneinanderzusitzen. Oder Butterbrote zu schmieren und gemeinsam auf einer Wiese zu picknicken? Ersteres kostet viel Geld und bringt wenig. Letzteres ist günstig und führt vielleicht zu einem unvergeßlichen Nachmittag. 

Gut, aber noch einmal nachgehakt: Obwohl wir die Werte der Achtundsechziger leben, sind diese unschuldig an der Misere?

Leibovici-Mühlberger: Die Abkehr vom Materialismus, wie die Achtundsechziger sie wollten, halte ich an sich für positiv. Das Problem ist, daß wir das überdreht haben und uns dies paradoxerweise genau zurück und sogar mitten hinein in die kapitalistische Logik geführt hat. Ja, uns sogar deren Vordringen in den zwischenmenschlichen Bereich beschert hat – weil, wie gesagt, die erstrebte Individualität keine soziale, sondern eine narzißtische Prägung angenommen hat. Wir sind bei unserem Streben nach Freiheit und Individualität sozusagen irgendwann falsch abgebogen.

Nachvollziehbar. Gleichwohl beinhalten die Ideen von 1968 doch eben jene unbedingte Tabuisierung von Autorität, Führung und Grenzen, die Sie als Hauptfehler kritisieren. 

Leibovici-Mühlberger: Das stimmt, aber ich glaube, es ist eine Mischung. Natürlich spielen die Ideen von 1968 eine Rolle. Dazu kommt aber das kapitalistische Prinzip und auch die narzißtische Vorstellung vieler Eltern, die Welt würde sich nur um ihr eines, einmaliges, ganz besonderes Kind drehen. Natürlich ist ihr Kind etwas Einmaliges und Besonderes – aber das gilt für das Kind des Nachbarn eben auch.






Prof. Dr. Martina Leibovici-Mühlberger, die Ärztin, Psychotherapeutin und Publizistin ist Geschäftsführerin der ARGE-Erziehungsberatung und Fortbildung in Wien. Sie war Trainerin für das österreichische Wissenschaftsministerium sowie die Universität Wien und Mitglied einer Expertengruppe eines EU-Projekts zum Thema Erziehung. Die Autorin verfaßte zahlreiche Bücher und Fachartikel und ist immer wieder in bundesdeutschen und österreichischen Medien zu Gast. Ihr neues Buch „Wenn die Tyrannenkinder erwachsen werden. Warum wir nicht auf die nächste Generation zählen können“ warnt, „daß die narzißtische Gesellschaft unsere Zukunft sein wird“ (Berliner Zeitung). Es „trifft einen Nerv“ (Westdeutsche Zeitung) und will „dieser Generation zur Hilfe kommen“ (Wiener Falter). Geboren wurde die Mutter von vier Kindern 1959 in Wien.  

Foto: Tyrannenkinder: „Auf diese Generation können wir nicht zählen ... Denn wer erlebt, daß sich stets alles um ihn dreht, er immer alles bekommt, versteht nicht, wenn eines Tages plötzlich Leistung von ihm verlangt wird.“

 

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