© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

Der Flaneur
Ur-westfälische Gastlichkeit
Bernd Rademacher

Das Ausflugslokal soll ein Kennertip sein: rustikal und authentisch regional. Wenn wir wirklich echte Folklore erleben wollten, müßten wir dorthin, sagte man uns gestern. Das wäre ein schöner Abschluß für unsere Fahrt ins Westfälische. Ich will versuchen, für den letzten Abend einen Tisch zu reservieren. Am Telefon meldet sich eine resolute ältere Dame. Als ich vortrage, daß ich einen Tisch bestellen möchte, antwortet sie unwirsch: „Nä, dat machich nich!“ Aber wir wollen mit acht Personen kommen. Sie: „Dat is’ mir gar nich recht. Dat is’ mir zu rummelich.“ Dabei rollt sie das R. Einiges Hin und Her am Telefon. Schließlich ein Kompromiß: Wir können auf gut Glück kommen, aber Reservierung gibt’s nicht, basta.

Auf ihrem Zettelblock schreibt sie tatsächlich achtmal „1 Pils“ untereinander.

Die Diele mit Herdfeuer ist wirklich urig. Die rotwangige Wirtin macht keinen Hehl daraus, daß wir ihre einsame Gemütlichkeit stören. Widerwillig nimmt sie am Tisch die Bestellung auf. Wir wollen Pils und „Samtkragen“, das ist ein Roggenkorn mit einem Schuß Magenbitter. Angeblich trinkt man das hier so. Aber auch dieses Zeichen der Anpassung an die Gebräuche der Eingeborenen stimmt sie nicht milder. Auf ihrem Zettelblock schreibt sie tatsächlich achtmal „1 Pils“ untereinander. Als sie bemerkt, daß wir ihr halb skeptisch, halb belustigt hinterherschauen, dreht sie sich um und blafft: „Wat guckt ihr mich so gräsich an?!“ Wir entschuldigen uns und beteuern, keineswegs „gräsig“ geguckt haben zu wollen.

Nach geraumer Zeit steht sie wieder in der Tür, mit einem vollen Gläsertablett in den knorrigen Händen. Mit äußerster Konzentration und im Zeitlupentempo balanciert sie die Getränke Schrittchen für Schrittchen in Richtung Tisch. Eine Spannung im Raum wie bei „Wetten, daß…?“ Sie hat erst die Hälfte der Strecke hinter sich, ob sie es schafft? Wir wagen kaum zu atmen, unsere Hände werden feucht. Jetzt bloß keinen Mucks, das könnte sie irritieren – und würde den Absturz des Tabletts bedeuten. Noch drei Schrittchen! Komm, du schaffst es! Zitternd gelingt der Drahtseilakt, die Gläser landen sicher auf den Bierdeckeln! Puh, physische Anspannung fällt von uns ab. Prost – auf die „freundliche Gastlichkeit“!