© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

Von A bis Z
Verwandte vom Lande: Ein Sprachwissenschaftler beklagt das Verschwinden von Sprichwörtern und Redewendungen
Richard Stoltz

Betrüblicher Seufzer aus dem fernen Japan. Der dort an der renommierten Tokioter Shikoku Gakuin Universität lehrende ungarische Soziolinguist László Cseresnyési, ein Sprachgenie allerersten Ranges, das sich im Chinesischen und Japanischen genauso gut auskennt wie im Deutschen und Engliscshen, beklagt mit zu Herzen gehendem Tremolo, daß überall auf der Welt Sprichwörter und feststehende Redewendungen aus der Alltagssprache verschwinden und daß daran nicht zuletzt die Dichter und Gelehrten Schuld trügen. 

Man solle sich doch bitte, fleht Cseresnyési geradezu, an die europäische Renaissance erinnern, als die Literaten ihre Texte genüßlich mit geflügelten Worten und deftigen Redeweisen würzten und sich dadurch, trotz der damals noch sehr beschränkten medialen Hardware, einem großen Publikum vernehmbar machten. Und heute? „Der Mensch unserer Zeit“, notiert der Sprachforscher, „hält davon nicht mehr viel. Wer sie zu oft verwendet, gilt als wenig gebildet, als einfältig und einfallslos. (...) Geflügelte Worte und Sprichwörter wirken nur noch wie Verwandte vom Lande, die etwas in die Jahre gekommen sind.“

Cseresnyési hat nur allzu recht. Statt Sprichwörtern und Redeweisen gibt es nur noch Politjargon beziehungsweise Fachjargon, und die Poeten und Gelehrten passen sich der Lage immer ungenierter an und verstärken die Misere dadurch noch. Es ist ein Graus. Aber was tun? Nun, vielleicht sollten sich wenigstens die Romanschreiber ihrer Verantwortung bewußt werden und einmal ein bißchen die Lexika für Sprichwörter und Redewendungen durchblättern, die es ja – dem Himmel sei Dank! – durchaus noch gibt.

Dort ist alles reichlich vorhanden und sogar noch schön alphabetisch geordnet, von A („Aller Anfang ist schwer“) bis Z („Zu Tode gefürchtet ist auch gestorben“).