© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

Nie ging es uns besser als heute
Populismus: Warum Thilo Sarrazin mit seiner These von der Abstiegsgesellschaft nicht recht hat
Markus Brandstetter

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Abstiegsgesellschaft. Die These, die unter seinem wehenden Leinentuch steckt, lautet so: Aus der Gesellschaft des „Aufstiegs und der sozialen Integration“ ist eine Gesellschaft des „sozialen Abstiegs, der Prekarität und der Polarisierung“ (Oliver Nachtwey) geworden. 

Die Gesellschaft des Aufstieges, das war das Deutschland der 1960er Jahre. Arbeiter und Angestellte verdienten jedes Jahr mehr und konnten sich plötzlich Häuser, Wohnungen, Kühlschränke, Waschmaschinen, Autos, Fernseher und Urlaube auf Mallorca leisten. Genauso wichtig war der Kranz aus Rechten, Ansprüchen und Sozialleistungen, der um diese materiellen Segnungen herumgeflochten wurde: die Urlaube, die immer länger wurden, die Urlaubs- und Weihnachtsgelder und die Zulagen, der Kündigungs- und der Mutterschutz, die – damals – steigenden Renten und die Leistungen der Krankenversicherungen.

Damit aber nicht nur die Alten und die Mittelalten etwas vom Aufstieg hatten, sondern auch die Kinder, wurden Schul- und Studiengebühren abgeschafft und der Weg zur Schule vom Staat bezahlt. Jetzt konnte jeder, der nur halbwegs intelligent, fleißig und begabt war, eine höhere Schule besuchen und sogar studieren. Diese potente Mischung aus wachsenden Einkommen, steigenden Rechtsansprüchen und höherer Bildung führte zu einer stärkeren Integration von Arbeitern und kleinen Angestellten, die vom unteren Rand der Gesellschaft eine Etage höher in die Mitte rutschten.

Und genau in dem Moment, als allen alles so wunderbar kuschelig und harmonisch vorkam – 1973 war das –, da ging es mit dem Wachstum bergab und mit den Arbeitslosen nach oben, da stiegen erst die Staatsausgaben und dann die Schulden, da wanderte die Textilindustrie nach Asien, die Stahlindustrie nach Amerika und die Kohleförderung nach Australien ab, während Motorräder, Kameras und Fernseher jetzt vorzugsweise aus Japan kamen. 

Die Trauerredner des Kapitalismus, allen voran Staatsphilosoph Jürgen Habermas, diagnostizierten Mitte der achtziger Jahre ratlos und beleidigt die Krise des Wohlfahrtsstaates. Plötzlich hatte der Staat zuwenig Geld, um auf der einen Seite die Marktwirtschaft zu hegen und zu pflegen, die dem Kapitalismus inhärenten zyklischen Krisen zu glätten, die internationale Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen und so ganz nebenbei auch noch Vollbeschäftigung und dauerhaft steigende Einkommen zu garantieren.

Dieser Grundwiderspruch, den es in allen sozialen Marktwirtschaften gibt, herrscht in Frankreich, Italien, Spanien und Österreich noch immer; dort dreht sich das Karussell aus vielen Arbeitslosen, hohen Schulden, niedrigem Wachstum und andauernden, aber sinnlosen oder sogar schädlichen Eingriffen des Staates in die Wirtschaft munter weiter.

In Deutschland ist das anders, hier hat Gerhard Schröders Agenda 2010 für einen staatlich alimentierten Niedriglohnsektor gesorgt, der die Verlierer von Globalisierung, Computerisierung und Internetwirtschaft mit Billigjobs über Wasser hält, die restliche Wirtschaft aber von ihren alten sozialstaatlichen Fesseln einigermaßen befreit und damit eine unerwartete Dynamik freigesetzt hat. Allein deshalb wächst die deutsche Wirtschaft seit Jahren robust, gibt es so viele Beschäftigte und so wenige Arbeitslose wie seit 25 Jahren nicht mehr, sprudeln die Steuereinnahmen wie noch nie, was uns erlaubt, Millionen von Flüchtlingen und Niedrigqualifizierten auszuhalten und ein Viertel des EU-Haushaltes zu finanzieren.

Die intrinsischen Widersprüche des Wohlfahrtsstaates, Globalisierung und Internet haben in den letzten vierzig Jahren eine gesellschaftliche Zentrifuge in Gang gesetzt, die diejenigen, die wenig können, wenig haben und nicht viel wollen, an den Rand der Gesellschaft schleudert, wo sie heulend und zähneknirschend an der Klippe hängen und die Mitte der Gesellschaft hassen, weshalb sie neuerdings „populistische“ Parteien wählen, von denen es heißt, sie hätten auf komplizierte Fragen nur simple Antworten zu geben.

Das in etwa ist die These des Gesellschaftskritikers Thilo Sarrazin, die er jüngst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vertreten hat. So klar diese These auf den ersten Blick ist, einer komplexen Wirklichkeit wird sie nicht gerecht. Weder leben wir in einer Abstiegsgesellschaft, noch verlieren CDU und SPD Wähler, weil das Wirtschaftswachstum nachgelassen hätte. Das andauernd durch Spiegel, Zeit und Süddeutsche geisternde Geschwurbel von Risikogesellschaft, Prekariat und einer Schicht der Armen, Abgehängten und Aussichtslosen läßt sich faktisch durch nichts belegen. Nie seit dem Zweiten Weltkrieg ging es den Deutschen besser als heute, was durch hohe Wachstumsraten, drei Bundeshaushalte ohne Neuverschuldung und die niedrigsten Arbeitslosenzahlen seit 1992 mühelos zu belegen ist. Also kann fehlendes Wachstum unmöglich der Grund sein, warum die Wähler CDU und SPD in Scharen davonlaufen.

Bedenkenswerter ist eine soziologische These (Habermas, Offe, Nachtwey), wonach das Gefühl von Sicherheit, Planbarkeit und eines automatischen gesellschaftlichen Aufstieges den heute Dreißig- bis Fünfzigjährigen abhanden gekommen sei. Diese Generation ist zwar noch mit der Hoffnung aufgewachsen, daß sie es besser haben wird als ihre Eltern, aber für viele wird sich diese Hoffnung nicht erfüllen. Wer heute dreißig ist, wird nicht automatisch ein größeres Haus besitzen, ein schöneres Auto fahren und eine höhere Rente haben als seine Eltern. Aber auch diese „neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas) kann nicht erklären, warum Wähler sich von den großen Volksparteien abwenden und populistische Alternativen suchen. 

Nein, der Grund für diese Entwicklung liegt hauptsächlich darin, daß die Politik in den vergangenen vierzig Jahren den Menschen Geschichte, Traditionen, Sinn, Ordnung, Struktur und die Legitimität politischen Handelns genommen und sie durch Chaos, Willkür, eine ahistorische Geschichtsauffassung, eine relativistische Wohlfühlethik und ein demokratisch nicht legitimiertes, rein legalistisches Vorbeiregieren am Bürger ersetzt hat.

Wer ohne gesetzliche Grundlage Millionen Flüchtlinge ins Land holt, ohne demokratische Legitimierung bankrotte EU-Länder mitfinanziert, eine für alle Bürger ruinöse Nullzinspolitik der EZB abnickt und der Menschen Hab und Gut reisenden Banden ungeschützt überläßt, der darf sich nicht wundern, wenn die Bürger Politiker wählen, die zumindest versprechen, ihnen Ordnung, Sicherheit und demokratische Legitimität zurückzugeben.