© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/16 / 10. Juni 2016

Die verräterische Macht der Triebe
Erstaunlich anständige Menschen: Ausstellung von Werken Rudolf Schlichters in Halle an der Saale
Sebastian Hennig

Vor allem aufgrund seiner erstaunlich genauen Porträts gilt Rudolf Schlichter als der wichtigste Vertreter der Neuen Sachlichkeit. Der Grund für diese Genauigkeit liegt nicht allein in seiner altmeisterlichen Maltechnik. Er hat die Menschen so respektvoll und zugleich unverborgen darzustellen vermocht, weil ihm nichts Menschliches fremd war. Unheimlich berührt uns heute noch die Ausstrahlung eines in diesen Bildnissen überlieferten Zeitgeistes.

Der Blick auf die Arbeitsweise seiner zeitgenössischen Kollegen läßt deutlich werden, worin das Besondere von Schlichters Kunst liegt. Der Porträtist Otto Dix hat seine Typen nach Art von spätgotischen Heiligen- und Stifterbildern mit Attributen aufgeputzt und durch veristische Überzeichnung in Karikaturen und Bilderrätsel verwandelt.

Schlichter dagegen stellt nichts zwischen Abbild und Betrachter. Die Dargestellten werden nicht zusätzlich stilisiert. Dafür übernimmt der Maler die vorgefundene persönliche Stilisierung in Kleidung und Haltung. Weil er selber die Abgründe der Seele stets vor sich hatte, vermochte er die anderen unbefangen und frei zu erblicken. Er rückt damit den Menschen sehr nahe, ohne indiskret zu werden. Seine eigenen Verstrickungen hält er den Porträtierten fern. Die Prostituierte „Margot“ (1924) steht mit eingestützer rechter Hand, in legerer weißer Bluse und im schwarzen Rock vor den Brandmauern der Mietskasernen. Ihr Blick wirkt müde. Zwischen den Fingern der Linken steckt eine kalte Zigarette.

Die Halbwelt hat einem Malerauge pittoreske Reize zu bieten. Doch Schlichter ist in sie nicht aus distanzierter Neugier und Sensationslust, sondern aus persönlicher Neigung und Wollust eingetaucht. Mit erotischen Radierungen, die er unter Pseudonym verkaufte, erzielte er bereits vor dem Weltkrieg seine ersten Einkünfte aus Kunstwerken. Die verborgenen Obsessionen des galanten und ermüdeten Großbürgertums stimulierte er mit Szenen von Auspeitschungen und Maskierungen. Die elegante Linienkunst in der Art des bewunderten Aubrey Beardsley verbrämt die Eindeutigkeit, mit der Frauen als Folterknecht und Lustobjekt vorgeführt werden.

Erst in den zwanziger Jahren tritt der genarrte Mann in den Kreis dieser Verrichtungen. Einige Blätter wandeln sich vom zierlichen Unterhaltungsstück zum ätzenden Kommentar über die verräterische Macht der Triebe. Unter dem Mantel einer Vanitas-Darstellung widmete sich der Katholik Schlichter weiterhin der erotischen Besessenheit. Im Aquarell „Extreme berühren sich“ von 1953 liegt auf einem Flammenbett eine vielbrüstige und vielarmige Verführerin. Welterschütterung und Selbsterregung, Lüsternheit und Schuldbewußtsein sind die Pole von Schlichters Existenz.

„Eros und Apokalypse“ ist ein zutreffender Titel für die Ausstellung im Kunstverein Talstraße in Halle. Die erotische Absonderlichkeit und die weltgeschichtliche Katastrophe rücken ineinander auf den Bildern dieses Künstlers.

Er befreundete sich mit den Neuen Nationalisten

Vor dem Weltkrieg studierte er erst in Stuttgart, dann in Karlsruhe. Dort wurde er Mitbegründer und wichtigster Protagonist der 1919 entstandenen Künstlervereinigung „Gruppe Rih“, benannt nach dem Rappenhengst des Karl-May-Helden Kara Ben Nemsi. Aquarelle zum Thema „Wild-West“ (1916–18) und „Der schwarze Jack“ (1916) zeigen seine eingefleischte Vorliebe für dieses Thema. Schlichter erklärte kurzum als Programm der Gruppe, sie wollten „den Philistern das Genießen unmöglich machen“. Theodor Däubler hat zu ihm angemerkt: „Er ist aus dem Indianerspielen noch nicht heraus! Rothäute sind ihm auch heute das Gleichnis eines ungestümen wilden Lebens. So ein Sioux und seine Squaw bleiben ihm der Inbegriff des Malenswerten.“

Tatsächlich zeigen die Darstellungen aktueller Massaker, wie „Armeniergreuel“ (1920/21) und „Massenmord an der chinesischen Mauer“ (1932) die gleiche kindliche Lust an der Grausamkeit, wie die Wildwest-Bilder und die „Raufenden Frauen“ (1922) mit den entblößten Hinterteilen.

Alles strömte nach Berlin in diesen Jahren. Ein Gartenhausatelier in Wilmersdorf teilt er sich zeitweilig mit George Grosz, der den Knöpfstiefelfetischisten 1923 auf einem Blatt seiner Grafikmappe „Ecce Homo“ vorführt. Am diszipliniertesten erweist Schlichter sich neben den Porträts in den eindeutig erotischen Darstellungen. Zeichnungen zeigen Frauen in Bars und Cafés oder ein „Dirnengespräch“. Die aquarellierte Bleistiftzeichnung zweier Frauen von 1923 trägt den beziehungsreichen Titel „Gruß aus Lesbos“. Eine nachgiebig wirkende Person wendet sich ergeben ihrer gestrengen Partnerin mit der harten hohen Stirn zu.

Die sechs Kaltnadelradierungen „Liebesvariationen“ sind 1922 entstanden. Der Voyeurismus zielt hier direkt auf den Geschlechtsakt, der vorbereitet, angedeutet oder gar vollzogen wird. Nacktes Fleisch leuchtet zwischen Stiefeln, Strümpfen und Unterröcken hervor.

Bei so viel Blöße und effektvoller Entkleidung hat Schlichter nie einen unverhüllten Frauenfuß gemalt oder gezeichnet. Denn er war besessen von Schuhen. Besonders eine altmodische Form von Knöpfstiefeln hatte es ihm derart angetan, daß seine Frau Speedy sie stets um seinetwillen trug. Die sonstige Zuwendung seiner Frau teilte er mit deren Liebhabern, die zuweilen gar im gemeinsamen Haushalt wohnten. Die attraktive Frau war für ihren Gatten eine besondere Trophäe. Im Jahr ihrer Hochzeit 1929 zeigten die Filmtheater „Tagebuch einer Verlorenen“ von Georg Wilhelm Pabst. Darin machte Speedy Schlichter an der Seite des Stummfilmvamps Louise Brooks eine stattliche Figur.

Schlichter publizierte nacheinander sowohl in der kommunistischen Roten Fahne, der Arbeiter Illustrierten Zeitung und im katholischen Hochland. Durch seine Frau befreundete er sich mit den Neuen Nationalisten. Die Kreise waren damals durchlässig und die Übergänge changierten. Er schildert seinen neuen Umgang: „... das sind erstaunlich anständige Menschen; ich habe links nie diese unzweideutige Gradheit menschlicher Gesinnung gefunden wie dort. Mit Ausnahme bei den KPD-Arbeitern, aber nicht bei den halb links gerichteten Intellektscheißern.“

Ende der zwanziger Jahre werden die Porträts von Schlichter lockerer und malerischer. Die politischen Hasardeure Arnolt Bronnen und Henri Guilbeaux hat er 1929 gemalt. Eine still in sich gekehrte Bleistiftstudie des Freundes Ernst Jünger ist 1937 entstanden. Eigenartig eingetrocknet wirken die Landschaften der dreißiger Jahre. Die bis zuletzt fortgeführte Stilisierung seiner Gattin Speedy erinnert an die unpersönlichen und dämonischen Frauengestalten auf den Bildern eines Paul Delvaux. In der unbehaglichen Atmosphäre seiner surrealen Landschaften der Nachkriegszeit rückt er nahe an Edgar Ende und Balthus heran.

Rudolf Schlichter starb 1955 im Alter von 64 Jahren in München.

Die Ausstellung „Rudolf Schlichter – Eros und Apokalypse“ ist bis zum 24. Juli im Kunstverein Talstraße in Halle/Saale Mi.–Fr. von 14 bis 19 Uhr, Sa./So. bis 18 Uhr, zu sehen.

Das Katalogbuch (240 Seiten, 132 Farb- und 32 s/w-Abbildungen) kostet während der Ausstellung 29,95 Euro.

 www.kunstverein-talstrasse.de