© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/16 / 10. Juni 2016

Nicht immer im Takt mit dem Präsidenten
Türkei: Die prosperierende Wirtschaft ist eng verknüpft mit dem Namen Simsek
Marc Zoellner

Mehmet Simsek stand die Überraschung ins Gesicht geschrieben: Denn eigentlich hätte er gar nicht mehr im Rennen sein dürfen. Aussichtslos, so hieß es im Vorfeld unter Finanzanalysten, sei die Wahrscheinlichkeit, daß der smarte Kurde noch einmal seinen Posten als Vizepremierminister zurückbekäme. Denn immerhin standen nicht nur bereits Bewerber mit weit freundlicheren Beziehungen zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan Schlange, um Simsek Rang und Einfluß abzulaufen. Mit Ahmed Davutoglu wurde überdies nur wenige Tage vorab der letzte Gönner Simseks in Regierungskreisen aus dem Amt als Ministerpräsident gedrängt.

Zeitgleich mit Davutoglus Entlassung traten Befürchtungen auf, die Türkei könne in eine hausgemachte Wirtschaftskrise rutschen. Nervosität erfaßte auch die Istanbuler Börse. Über Nacht stürzte Anfang Mai der Leitindex ISE-100 um rund 6.000 Punkte ab. Der US-Dollar verteuerte sich im Vergleich zur türkischen Lira um 20 Cent auf gut drei Dollar. Doch schuld war nicht das Ausscheiden Davutoglus, der sich mit Erdogan unversöhnlich überworfen hatte, aus der Regierungsverantwortung.Viel wichtiger noch als der Rücktritt Davutoglus seien die Auswirkungen auf Simseks Position im Kabinett, erklärte Abbas Ameli-Renani, Analyst beim französischen Investmentriesen Amundi, der Nachrichtenagentur Bloomberg.

Simseks Bekanntheitsgrad ist in der Türkei immens. Der 49jährige graduierte Ökonom mit der britisch-türkischen Doppelstaatsbürgerschaft gilt als eine der Leitfiguren des anhaltenden Wirtschaftswunders. 

„Seit der Weltwirtschaftskrise 2007 schuf die Türkei über 6,3 Millionen Arbeitsplätze“, schwärmte selbst die Weltbank in ihrem im April erschienenen Jahresbericht pathetisch über die kleinasiatische Republik. „Die Erfolge der Türkei sowie ihr Potential für die Zukunft sind eine Quelle der Inspiration für andere Schwellenländer.“

Mit einem Volumen von rund 800 Milliarden US-Dollar steht die Türkei weltweit auf Platz 17 der Volkswirtschaften. Seit der Kapitulation der heimischen Textilindustrie, einem der traditionellen Standbeine des Landes, vor fernöstlichem Preisdumping boomen insbesondere die Bau- und die Elektronikbranche. Von den 250 größten internationalen Bauunternehmen finden sich gleich 43 in der Türkei. In den Jahren unter Erdogan avancierte der Bosporusstaat nicht nur zum weltweit achtgrößten Nahrungsmittelproduzenten. Die Türkei ist mittlerweile auch der bedeutendste Produzent sowohl für Nutzfahrzeuge als auch für Fernseher und Heimzubehör in Europa.

Dabei schienen Erdogans Karten gerade zu dessen erster Vereidigung als Ministerpräsident des Landes im März 2003 nicht eben gut. Zur Jahrtausendwende drohte die türkische Wirtschaft zu kollabieren. Der ausufernde Machtkampf zwischen dem islamistischen Politiker Necmettin Erbakan und dem kemalistischen Militär verunsicherte das Gros der ausländischen Investoren.

Binnen weniger Monate zogen internationale Geldgeber über 70 Milliarden US-Dollar an Investitionskapital ab. Die klamme Staatsführung, die ohnehin schon mit Haushaltslöchern von bis zu 40 Prozent des Gesamtfiskalbetrags zu kämpfen hatte, konnte plötzlich ihre Schuldverpflichtungen nicht mehr tilgen. Staatseigene Betriebe mußten privatisiert, ein Milliardenkredit beim Internationalen Währungsfonds beantragt werden. Massenverarmung und Zukunftsängste ließen die frisch gegründete AKP ihren ersten großen Wahlsieg einfahren.

Wie die Türkei seitdem ihre Probleme zu meistern verstand, konstatieren Analysten, grenzt an ein kleines Wirtschaftswunder. „In weniger als einem Jahrzehnt hat sich das Pro-Kopf-Einkommen des Landes nahezu verdreifacht“, faßt die Weltbank in ihrem Jahresbericht zusammen. „In derselben Zeit sank die extreme Armut von 13 auf 4,5 Prozent und die gemäßigte Armut wiederum von 44 auf 21 Prozent, während sich der Zugang zu Gesundheits-, Bildungs- und Gemeindediensten für die weniger Begüterten drastisch verbessert hat.“

Simsek steht nun verstärkt unter Aufsicht

Gerade die vertieften Wirtschaftsbeziehungen zur Europäischen Union, mit rund 40 Prozent Anteil der umsatzstärkste Außenhandelspartner Ankaras, dienten dem türkischen Wirtschaftswunder dabei als treibender Motor. Doch noch viel mehr verdankt die Türkei ihren Aufschwung einer kleinen Gruppe hochqualifizierter Technokraten, die es vermochten, dem wankelmütigen, auf internationalem Finanzparkett nur wenig geübten Erdogan immer wieder die Stirn zu bieten. Simsek ist einer von ihnen.

Ursprünglich im Londoner Zweig der US-Investmentfirma Merrill Lynch angestellt, berief Erdogan den 1967 geborenen Kurden aus der Provinz Batman 2007 zum Staatsminister für Wirtschaft und anderthalb Jahre darauf bereits zum Finanzminister. Unter Simseks Ägide schmolz die öffentliche Verschuldung der Türkei von 46 auf 33 Prozent. Der Leitzins wurde trotz schlechter Erfahrungen aus der Wirtschaftskrise 2001 drastisch erhöht, um die Inflation der Lira zu zügeln – trotz der ausdrücklichen Anordnung Erdogans, der darauf beharrte, daß lediglich niedrige Zinsen für Privatkredite den türkischen Arbeitsmarkt expandieren lassen könnten.

„Ohne dieses Team kompetenter Technokraten“, bestätigt der Londoner Analyst Tim Ash im Bloomberg-Interview, „gäbe es kein AKP-Wirtschaftswunder.“

Daß Simsek auch im nunmehr 65. türkischen Kabinett wieder vertreten sein wird, erfreut besonders die Investoren: Denn immerhin stellt dieser einen der wenigen stabilen und vor allem berechenbaren Anker im ansonsten vor Populismus schäumenden Meer der AKP-Politik dar. Trotz alledem hat der türkische Präsident die unzähligen Affronts Simseks in der Vergangenheit nicht  vergessen. So darf Simsek zwar seinen im November 2015 verliehenen Posten als Vizepremier behalten. Seinen Kompetenzbereich, die Leitung der türkischen Wirtschaft und Währungspolitik, muß er sich nun allerdings zwangsweise mit Nurettin Canikli teilen, einem AKP-Hardliner, der wie Erdogan einer islamisch-konservativen Imam-Hatip-Schule entstammt und sich als Kolumnist der AKP-nahen Tageszeitung Yeni Safak einen Namen als besonders Erdogan-treuer Kolumnist erworben hat.