© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Deutscher Geist
Das Eigene verwerfen
Thorsten Hinz

Der amerikanische Philosoph John Dewey (1859–1952) mochte die Deutschen nicht. Dazu bedurfte es keines Hitlers, den er nur als die praktische Konsequenz aus der deutschen Philosophie betrachtete. Denn diese determinierte nach seiner Überzeugung die deutsche Politik. Schon lange vor dem Auftritt des fatalen Führers vermeinte er, aus Germanien einen Geist zu verspüren, der die amerikanisch-westliche Lebensweise bedrohte. 

Anfang 1915, mehr als zwei Jahre vor Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg, hielt er Vorträge zur deutschen Philosophie- und Geistesgeschichte, die er von einem „Zwei Welten“-System in der Tradition von Luther und Kant geprägt sah. Mit beinahe beleidigtem Unterton registrierte der Theoretiker des Pragmatismus – einer Philosophie, die sich als zukunftsorientiert versteht und in der Nützlichkeit, Erfolg und Praxisbewährung die entscheidenden Wahrheitskriterien darstellen –, daß deutsche Denker zwischen dem physischen Bereich der Notwendigkeit und dem idealen Reich der Freiheit unterschieden und die materiellen, insbesondere wirtschaftlichen Interessen in einen Gegensatz zum Geist stellten. Die Unfähigkeit der Deutschen, „die Philosophie der demokratischen Methode der Entwicklung sozialer Einheit richtig einzuschätzen“, führe sie zum Glauben an die „autoritäre, absolute Macht“ als einzige Methode, die „soziale Einheit zu erlangen“. Ihre „Verehrung einer inneren Wahrheit“ bleibe ohne Interesse für die „äußeren Folgen“. Eingekapselt in der „Innerlichkeit“, immunisierten sie sich gegen die äußere Welt. Ihr Geist sei schwer zu kommunizieren. Den adäquaten Ausdruck finde er nur „durch die Musik, durch eine zerbrechliche und zarte Dichtung“, wie Dewey widerwillig anerkennend hinzufügte.

Seine Vorträge bilden das bündige Komplementärstück zu Thomas Manns mäandernden „Betrachtungen eines Unpolitischen“, die zur selben Zeit entstanden. Unter konträren Vorzeichen arbeiteten beide die geistig-kulturelle Differenz zwischen Deutschland und dem Westen heraus. Soweit Dewey die Unfähigkeit der Deutschen zu pragmatischer Politik thematisierte, kann man ihm schwerlich widersprechen und stand ihm Max Weber darin kaum nach. Aus heutiger Perspektive wünschte man sich, angelsächsischer Pragmatismus und deutscher Idealismus hätten sich gegenseitig ergänzt.

Die Deutschen waren ja keine geborenen Antiamerikaner. Max Scheler hatte 1916/17 ihre Unbeliebtheit in der Welt vor allem mit ihrer Tüchtigkeit, ihrem Organisationstalent und ihrem Ausstoß an Industrieprodukten erklärt – durchweg Eigenschaften, die man mit dem modernen Amerika verband. In diesem Sinne waren sie das modernste und am meisten amerikanisierte Volk Europas. 

Aber das waren sie eben nur zur Hälfte. Der Gedanke ist zu schön, ihnen wäre eine geistige Synthese gelungen, in der politischer Pragmatismus mit ihrem spekulativen Geist zusammengefunden hätte. Ihre Geschichte wäre glücklicher verlaufen, und sie hätten dem Jahrhundert eine andere Prägung gegeben. Der Unterschied hätte vor allem auf dem geistig-kulturellen Gebiet gelegen, wo Deutschland die Funktion des Katechons, des Aufhalters jener Tendenzen der Beschleunigung zugefallen wäre, die Europa nun unter sich zu begraben beginnen.

Das Potential dafür ist etwa in der „zerbrechlichen und zarten Dichtung“ Rainer Maria Rilkes enthalten, dem idealerweise vorschwebte, daß der Mensch die ihn umgebenden Dinge mit der Seele durchdringt, sie in eine persönliche Welt verwandelt und so im Austausch mit ihnen sein Identitätsgefühl bewahrt, anstatt sich ihnen auszuliefern. In den Duineser Elegien heißt es: „Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus, / Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, –“ Das Mittel dazu sind die Worte – das „Sägliche“ –, die uns gegeben sind, um heimisch zu werden in der Welt: „Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat“. Die Dinge sind nicht beliebig, es sind die, wie Rilke in einem Brief an seinen polnischen Übersetzer Witold Hulewicz schrieb, „mitwissenden Dinge“, in die „die Hoffnung und Nachdenklichkeit unserer Vorväter eingegangen“ ist wie in „Gefäße“. Dieses Eingedenken braucht Muße und Besinnung. Am Ende bewahrt es den Menschen davor, dem reinen Nützlichkeitsdenken zu verfallen.

Mit solchen Ansprüchen macht man sich heute verdächtig. Wo „die Hoffnung und Nachdenklichkeit unserer Vorväter“ von Staats wegen auf singuläres Verbrechertum beschränkt wird, haben die Furien des Verschwindens freie Bahn und werden die „mitwissenden Dinge“ geschleift oder konterkariert. Und sei es dadurch, daß der Ruf des Muezzins das Geläut der Kirchenglocken übertönt.

Natürlich hat das viel mit Krieg, Niederlage und kollektiver Umkonditionierung zu tun. Es ist symbolisch, daß der greise Demokratiepädagoge Dewey als einer der Ehrenpräsidenten des Kongresses für kulturelle Freiheit 1950 in Berlin fungierte und Melvin Lasky, der Herausgeber der damals einflußreichen Zeitschrift Der Monat, zu seinen Anhängern zählte. Dewey wirkte auch auf die Vertreter der Neuen Linken in Deutschland, so auf Herbert Marcuse, „der die amerikanische Tradition von Partizipation und Protest in das marxistisch geprägte Idiom der deutschen Theorie übersetzte“, wie Tim B. Müller in seinem Buch „Krieger und Gelehrte“ schreibt.

Die Entwicklung weist einige Paradoxien auf. So haben sich manche der von Dewey kritisierten Konstanten bewahrt, um unter neuen Vorzeichen sich gegen das Positive zu wenden, was sich mit ihnen verband. Heute wird mehr denn je zwar auf keine „inneren“, dafür auf verinnerlichte fixe Ideen gepocht, ohne Rücksicht auf „äußere Folgen“. Etwa darauf, daß das Eigene zu verwerfen und durch eine multiethnische Gesellschaft zu ersetzen sei. Noch eine weitere erhalten gebliebene Konstante wird darin sichtbar: die Unfähigkeit zu pragmatischer Politik, nun freilich begründet mit gezogenen historischen Lehren und humanitärem Engagement.

Ein Dewey könnte das aus atlantischer Perspektive jetzt nützlich finden, doch eine geistig rege Linke in Deutschland – gäbe es sie –, müßte das irritieren. Schließlich hatte Marcuse in dem Klassiker „Der eindimensionale Mensch“ dargestellt, wie die Dinge – die Gebrauchsgüter, Dienstleistungen, die Produkte der Kultur- und Nachrichtenindustrie – die Menschen durchdringen, manipulieren und „ein falsches Bewußtsein (befördern), das gegen seine Falschheit immun ist“. Die genaue Umkehrung von Rilke also! Besser ist seither nichts geworden. Wohl bietet das Internet neue Möglichkeiten, der Falschheit auf die Schliche zu kommen, aber auch die zu ihrer Verdoppelung.

Wo Künstler sich als moralisierende Transmissionsriemen politischer Alternativlosigkeit verstehen, eröffnen auch Kunst und Literatur keine Besinnungsräume mehr. Die Alternative dazu besteht nicht darin, daß der alternative Künstler explizit politische Gegenpositionen bezieht. Vielmehr muß er die Absurditäten per Imagination in den Kontext einer höheren Ordnung stellen, wo sie sich sichtbar ad absurdum führen und den Leser oder Zuschauer zur Katharsis führen. Das setzt erneut ein gedankliches Zwei-Welten-System und die innere Wahrheit voraus, daß Kunst mit der Demokratie so wenig identisch ist wie mit dem Sozialismus. Daran hatte auch Rilke nicht geglaubt, als er seine Elegien schrieb.






Thorsten Hinz, Jahrgang 1962, studierte in Leipzig Germanistik, war JF-Kulturredakteur und ist heute freier Autor. 2004 erhielt er den Gerhard-Löwen­thal-Preis für Journalismus.