© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Vergewisserung des Eigenen
Es geht um Existenzfragen
Karlheinz Weißmann

Bratwurst ist deutsch, Döner ist es nicht; Filterkaffee ist deutsch, Latte ist es nicht; Trester ist deutsch, Cognac ist es nicht; Fanta ist deutsch, Coke ist es nicht; Manchesterhosen sind deutsch, Cordhosen sind es nicht; der Ostfriesennerz ist deutsch, der Parka ist es nicht; Lufthansa ist deutsch, Ryan Air ist es nicht; Volkswagen ist deutsch, Mitsubishi ist es nicht.

Man könnte so endlos fortfahren, würde einmal mehr, einmal weniger Zustimmung erfahren. Ganz und gar abwegig dürfte die Feststellungen kaum jemand finden. Aber wahrscheinlich betrachten sie viele als unergiebig. Und dann stehen noch jene bereit, die auf einheimische Liebhaber von mit Fleisch gefüllten Teigtaschen hinweisen oder auf die Tatsache, daß Kaffee eigentlich ein exotisches, erst spät eingeführtes Getränk ist, das die alten Germanen nicht kannten, daß man in hoch patriotischen Zeiten auf „deutschen Cognac“, recte Weinbrand, schwor, zwischen Manchesterstoff und Cord im Ernst kein Unterschied besteht und man den Volkswagenkonzern als international operierendes Unternehmen betrachten muß.

Es bleibt aber trotzdem eine Restbedeutung. Die ergibt sich zum einen daraus, daß das Selbstverständnis einer Gruppe vor allem im Alltäglichen – Eßgewohnheiten, Trinksitten, Tracht – zur Geltung kommt und zum anderen daraus, daß die Vorstellung von dem, was uns ausmacht, überhaupt erst durch Entgegensetzung und Abgrenzung schärfere Kontur gewinnt. Diese Wahrheit ist zwar anrüchig, weil exkludierend, aber was besagt das schon?

Zumal sich die Konfrontationen auf höherer Ebene fortsetzen lassen: Arminius ist deutsch, Varus ist es nicht; der Heliand ist deutsch, der Koran ist es nicht; Zwiespalt ist deutsch, Dilemma ist es nicht; Vernunft ist deutsch, „clarté“ ist es nicht; Blauäugigkeit ist deutsch, „kant“ (Fontane: „Sie sagen Christus und meinen Kattun“) ist es nicht; Innerlichkeit ist deutsch, „grandezza“ ist es nicht; Weihnachten ist deutsch, Halloween ist es nicht; Luther ist deutsch, Cromwell ist es nicht; Till Ulenspiegel ist deutsch, Don Quichotte ist es nicht; Bach ist deutsch, Rameau ist es nicht; Goethe ist deutsch, Byron ist es nicht; Heideg-ger ist deutsch, Habermas ist es nicht.

Auch da muß man auf Widerspruch gefaßt sein. Es gibt hochrangige Politiker, die es vorzögen, wenn die Römer im Teutoburger Wald gesiegt hätten, ein paar Naseweise, die immer wieder darauf kommen, daß Friedrich der Große die Türken zur Einwanderung lud und sogar bereit war, ihnen Moscheen zu bauen, und natürlich die, die feststellen, daß in den letzten Jahrzehnten das „nicht allzu mißlungene Produkt der Umerziehung“ (Habermas über Habermas) viel größeren Einfluß auf das Denken der Deutschen gewonnen hat als der Weise von Todtnauberg.

Wenn man will, kann man auch aus diesem Widerspruch noch auf etwas spezifisch Deutsches kommen: die Unsicherheit der Deutschen darüber, was es mit ihnen sei. Eine Unsicherheit, die viel älter ist als Teilung, Vergangenheitsbewältigung, Globalisierung, Vernetzung und Multikulturalismus. Nietzsche jedenfalls hielt uns für undefinierbar. „Es kennzeichnet die Deutschen“, schrieb er, „daß bei ihnen die Frage ‘was ist deutsch?’ niemals ausstirbt.“ Und sein Intimfeind Wagner wußte sich zur Beantwortung auch bloß mit der Auskunft zu helfen, daß Deutsch-Sein heiße, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun.

Bevor man darin allzu rasch eine Leerformel sieht, sei zu bedenken gegeben, daß für viele kluge Beobachter, gerade wenn sie unsere Spezies von außen betrachten, die Neigung zum Prinzipiellen hervorsticht. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Mir ist eine junge Dame in Erinnerung, die voller Begeisterung zum Studium nach England ging, entschlossen, nie zurückzukehren, ihre Examina glänzend bestand und dann heimkam mit der Begründung, man könne mit einem Briten kein „tiefes“ Gespräch führen.

Wenn etwas, dann ist die Tendenz zur Tiefe und zum Grundsätzlichen ein Teil der deutschen Mentalität, verstanden als jenes Gesamt an Prägungen, Einstellungen und als selbstverständlich betrachteter Urteile, die Menschen fast unmerklich bestimmen. 

Wenn etwas, dann ist die Tendenz zur Tiefe und zum Grundsätzlichen ein Teil der deutschen Mentalität. Mentalität verstanden als jenes Gesamt an Prägungen, Einstellungen und als selbstverständlich betrachteter Urteile, die Menschen fast unmerklich bestimmen. Man kann durch den Hinweis auf die deutsche Mentalität nicht nur die meisten der als „typisch deutsch“ geltenden Tugenden – Sparsamkeit, Ordnungssinn, Pünktlichkeit – erklären, sondern auch die Neigung unserer großen Denker zum System oder jenen „protestantischen“ Zug in der deutschen Geschichte, der immer wieder zu Ausbrüchen gegen das geführt hat, was man „Rom“, „den Westen“ oder gleich „die zivilisierte Welt“ nennt.

Diese Art von Widerständigkeit hat man lange für erledigt gehalten. Was die Anlehnung an die große Schutzmacht nicht bewirkt hatte, das fiel den Achtundsechzigern zum Opfer, was nicht unter den Einfluß der westernization oder des „inneren Frankreich“ geriet, das gab sich begeistert der „Italianisierung“ hin. Es überrascht insofern, daß man es jetzt mit der Wiederkehr verfemter Denker zu tun hat und sich die alte Ostsehnsucht regt, Altgrüne ihren Patriotismus entdecken und Ex-Antideutsche zu einer Art Nationalbolschewismus lite tendieren, überhaupt die Grenzen zwischen dem, was bis dato als „rechts“ galt, und dem, was bis dato als „links“ galt, verschwimmen.

Vieles davon findet man auch in den „identitären“ Bewegungen, die in anderen Teilen Europas erstarken, aber nur in Deutschland gibt es ein so ausgeprägtes Gefühl dafür, daß man kollektiv für dumm verkauft wird, daß der Zugang zum eigenen Herkommen willentlich, wissentlich zerstört wird, daß es mit dem Gewohnten nicht weitergeht, daß weder die seit dem Kalten Krieg übliche Lagerbildung noch die Parteiformationen dem genügen, was kommt, und daß es nicht einfach um irgendeine politische Veränderung geht, die Umgruppierung derjenigen, die an die Futtertröge wollen, sondern um Existenzfragen.

Und wenn Pegida etwas zum Ausdruck gebracht hat, dann doch das: sinnfällige Opposition gegen die Auflösung und Auslöschung all dessen, was deutsch, europäisch, christlich ist. Obwohl die Kirche den Demonstranten am liebsten den Gebrauch des Kreuzes untersagt hätte und die Etablierten die Verwendung der Nationalflagge wie der des 20. Juli mit Empörung quittierten: Es kam in dieser Symbolik zur Geltung, daß man auf etwas beharrte, was den Kern des Eigenen ausmachte und was „die da oben“ im Namen von Modernität, Sachzwang und Globalisierung zu verschleudern bereit sind.

Die Deutschen beginnen erst spät damit, sich Rechenschaft über 

die Bestände zu geben, über das, was belastbar ist und was überflüssig. Auch das gehört zu unserem Nationalcharakter, eine Schwierigkeit,

sich auf neue Lagen einzustellen.

Dieses Beharren ist meist unreflektiert. Das kann nicht anders sein, stört aber das anspruchsvolle Feuilleton, wo man selbstverständlich viel besser weiß, was das Abendland ist. Aber auch das spielt keine Rolle mehr. Denn so wie es den Widerwillen der „schnatternden Klasse“ (Enoch Powell) gegen die Männer und Frauen auf der Straße gibt, wissen die umgekehrt, daß ihre Gegner von Selbsthaß zerfressen sind, in ihnen nur „Spießer und Spitzel“ sehen, „von Neid und Niedertracht getriebene Charaktere“ und in unserem Land etwas, das aussieht wie „in die Mitte Europas gekotzt“, eine „stinkende und stückige Lache Erbrochenes“, eine „Staat gewordene Kloake“, angesichts derer nur die Frage bleibt, warum die Alliierten nicht kurzen Prozeß gemacht haben (Philip Meinhold in der taz, 27. Februar 2016).

Im Trotz der Basis liegt ein erhebliches Potential. Aber das allein genügt nicht. Es muß auch Wortführer geben, solche, die ihr Selbstbewußtsein gerade nicht aus dem Gegensatz zu „den Leuten“ speisen, und die bereit sind, sich gegen das zu stellen, was den Konsens der alten Republik ausmachte, eine „organische Intelligenz“, die eine Allianz mit der Basis schließt und zum Ausdruck bringt, was dort nicht oder nur unter Mühen zum Ausdruck gebracht werden kann.

Die Aufgabe dieser Gegenelite wird es auch sein, die Frage „Was heißt deutsch?“ neu zu stellen. Und sie muß sich darüber klar werden, daß man die nicht mehr beantworten kann durch den Hinweis auf die Stammeseigenschaften von Ostpreußen und Westfalen, das Brauchtum von Niedersachsen und Sudetendeutschen und ganz sicher nicht unter Rekurs auf die Schädelform von Niederbayern und Lothringern. Völker sind historisch gewordene Einheiten. Sie unterliegen Veränderungsprozessen.

Das heißt umgekehrt nicht, daß ihre Eigenschaften – leibliche wie geistige – beliebige wären, eine Art Patchwork, das sich so oder so zusammensetzen ließe. Es hat in der Vergangenheit genügend Beispiele für eine „Ethnomorphose“ gegeben, an deren Ende das Volk nicht mehr wiederzuerkennen war. Dieses Schicksal droht auch uns. Wenn Europa am Ende des Jahrhunderts „ein Teil des arabischen Westens, des Maghreb“ (Bernard Lewis) wäre, was soll das als Deutschland bezeichnete Gebiet dann noch mit dem zu tun haben, was man gemeinhin als „deutsch“ bezeichnete?

Überhaupt solche Fragen zu stellen, galt lange als tabu. Aber die Zeiten haben sich gewandelt. In den Völkern des Kontinents regt sich ein Selbstbehauptungswille, den es zu stärken gilt. Im Streit wird geklärt, was es überhaupt heißen kann, ein Spanier, Franzose, Brite, Deutscher zu sein. Dazu gehört auch die Bereitschaft, sich Rechenschaft über die Bestände zu geben, über das, was gelten soll, belastbar und zukunftsfähig ist, über das, was erledigt, überflüssig und veraltet ist. Die Deutschen beginnen sehr spät mit dieser Arbeit, aber auch das gehört zu dem, was man ihren Nationalcharakter nennen kann, eine Schwierigkeit, sich auf neue Lagen einzustellen, zur Wirklichkeit durchzustoßen. Mit dem Gerede von der „verspäteten Nation“ hat das nichts zu tun; um noch einmal den großen König zu zitieren: „Wer zuletzt kommt, übertrifft zuweilen die Vorgänger; das kann bei uns schneller eintreten, als man meint.“






Dr. Karlheinz Weißmann, Jahrgang 1959, ist Historiker, Publizist und Buchautor. Er arbeitet im Höheren Schuldienst des Landes Nieder­sachsen. Auf dem Forum erschien von ihm zuletzt ein Auszug aus seinem aktuellen Buch „Rubikon. Deutschland vor der Entscheidung“ (JF-Edition).



Was ist heute deutsch?

Anders als in Perioden sorgloser Prosperität rufen Zeiten der Not, der Krise und des Umbruchs nach Selbstvergewisserung. Menschen halten prüfend Ausschau, was sie hält und trägt, wer sie sind, was verläßlich ist, woraus Kraft und Ermutigung erwachsen können. Die Frage der Identität wird wieder drängend. Gerade auch für uns als Deutsche in der Mitte Europas, gegen deren Existenz als nationales Kollektiv die Brandung schlägt: Masseneinwanderung, demographischer Niedergang, Globalisierung und Entgrenzung genauso wie schädliche Ideologien, Dekadenzerscheinungen, geistliche Leere und Verwirrung. Die JF beginnt in dieser Ausgabe mit dem vorliegenden Essay von Karlheinz Weißmann eine kleine Artikelserie, die in loser Folge der Frage nachgeht, was denn heute deutsch sei. Die Auseinandersetzung damit ist es in jedem Fall. In zwei Wochen folgt an dieser Stelle ein Essay von Sebastian Hennig über das Deutsche in der Hochkultur. (ru)