© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

König Fußball ist kein Thema
Frankreich: Die wirtschaftliche Krise überlagert die Europameisterschaft ebenso wie die Angst vor dem Terror
Jürgen Liminski

Terror? Welcher Terror? Eine Woche vor der Fußball-Europameisterschaft in Frankreich spielt das Thema Terror im öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle. Das Land ist im Ausnahmezustand, vor größeren Supermärkten und Luxus-Geschäften wie „Au bon marché“ am Boulevard de Sèvres stehen Wachen mit Maschinenpistolen, dahinter ein Jeep mit der fast versteckten Aufschrift „Armee de terre“. An den Bussen sieht man Werbeplakate für Jobs bei der Polizei: „Stolz darauf, der Gerechtigkeit zu dienen“, sagt da ein junger Mann lächelnd mit frischer Uniform. Ansonsten herrscht Normalität. Der Terror ist erfolgreich verdrängt. Aber auch die EM selbst löst keine Emotionen aus, schon gar nicht Begeisterung. Keine Fähnchen, keine Flaggen. Vielleicht kommt das noch. Das wirkliche Thema, der wirkliche Kampf ist die Krise, genauer die Wirtschaftskrise, die sich zu einer politischen Krise ausgewachsen hat und die nun das Land zu spalten droht. 

Konfrontation mit CGT trägt totalitäre Züge

Denn Frankreich hat ein Trauma, die Spaltung. In der Tat: Seit der „notwendigen Plage der Revolution“ (Joseph de Maistre) teilt sich das Land auf, in die an der Macht und in die auf der Straße. Die Demokratien eigene Kompromißfähigkeit ist in der großen Revolution gleichsam mit geköpft worden. Deswegen muß das Land auch eine nahezu allmächtige Integrationsfigur, einen monarchischen Präsidenten haben. 

Die Fünfte Republik verdrängte das Trauma der zwei Frankreiche. Die beiden Lager wurden durch einen stetig wachsenden Sozialapparat besänftigt. Das französische Sozialsystem ist das teuerste in der EU. Zu seinen „Errungenschaften“ gehören die 35-Stunden-Woche und ein Rentensystem, das trotz höheren Lebensalters mit immer kürzeren Lebensarbeitszeiten beglückte. Aber irgendwer muß die Party bezahlen. Die Finanzkrise und ihre Folgen, die Zuwanderung in die Sozialsysteme, der verschärfte Wettbewerb durch die Globalisierung legen dem französischen Haushalt Rechnungen auf den Tisch, die nicht mehr beglichen werden können. Zwar hilft die EZB mit Gelddrucken und die EU-Kommission mit Nachsicht und Aufschub für die Sanierung – unter Federführung des französischen Kommissars Pierre Moscovici, der für Haushaltsstabilität zuständig ist. 

Die Arbeitsmarktreform, das nach der Arbeitsministerin el Khomri benannte Gesetz, legt die Arbeitszeit jetzt in die Hand der einzelnen Unternehmen und ihrer Belegschaften, nicht mehr in die Verfügung der Branche, mithin der Gewerkschaften. De facto entspricht das einer Aufweichung der 35-Stunden-Woche. Denn die Arbeitnehmer werden lieber eine oder zwei Stunden länger in der Woche arbeiten, als ihre Stelle durch die Pleite des Betriebs ganz zu verlieren. Das aber bedeutet eine Entmachtung der Gewerkschaften, vor allem der kommunistischen CGT. Sie verlangt die Zurücknahme des Reformgesetzes. 

Die Konfrontation zwischen Regierung und CGT trägt totalitäre Züge. Sie hat das alte Trauma der zwei Frankreiche wiederbelebt. Dieser tiefe, völkerpsychologische Kern der aktuellen Auseinandersetzung macht ihre Unversöhnlichkeit aus. Deshalb wird entweder die Regierung das Gesetz zur Arbeitsreform zurückziehen und damit ihren Rest an sachlicher Legitimität verlieren oder die CGT ihre Macht. 

Erschöpfte Polizei hinterläßt Sicherheitslücke

Mit der Blockade der acht Raffinerien des Landes und der folgenden Benzinknappheit hat die CGT ihre Zähne gezeigt. Die staatlich gelenkte Ölgesellschaft Total verlor 20 Millionen Euro pro Tag. Die Bevölkerung ist gespalten. Knapp 46 Prozent zeigen Verständnis für die CGT und fordern ebenfalls die Rücknahme des Gesetzes. Etwa ebenso viele verteidigen die Position der Regierung. 

Streiks kosten die Gewerkschaften auch viel Geld. Sie haben die Blockaden gelockert und bis auf den Nordwesten des Landes hat sich die Lage an den Tankstellen normalisiert. Auch spielt das Wetter nicht mit. Vorsorglich hat die CGT nun eine Großdemonstration Mitte Juni angekündigt, wenn die Fußball-EM läuft. Jetzt stehen Ehre und Ansehen Frankreichs im Mittelpunkt.

Im Innenministerium indes stellt man sich ganz andere Fragen. Großdemonstrationen, Blockaden und Streiks werfen auch Sicherheitsfragen auf und binden Kräfte. Das kann man sich während der Europameisterschaft eigentlich nicht leisten. Seit Monaten leben Polizei und Gendarmerie, Armee und Geheimdienste im Alarmzustand. 14.000 Soldaten helfen den Zehntausenden inländischen Sicherheitskräften. Die Polizei ist erschöpft. Dazu beigetragen haben in den vergangenen Monaten eben auch Demonstrationen mit Gewaltausbrüchen. Abgeordnete diskutieren mehr oder weniger offen, ob man die CGT-Spitze nicht festnehmen solle, es herrsche Ausnahmezustand und Artikel 16 der Verfassung erlaube in dieser Situation solche Maßnahmen, wenn die Sicherheit des Landes und seiner Bürger bedroht ist. Dazu wird sich Hollande nicht entschließen können, denn er fürchtet den Schulterschluß der Gewerkschaften, aber auch den Aufstand der Straße. Die Force ouvrière, die zweitgrößte Gewerkschaft Frankreichs, hat schon Streiks während der Europameisterschaft angekündigt. 

Zwar ist der Organisationsgrad der Arbeitnehmer gering. Nur knapp acht Prozent der Arbeitnehmer gehören einer Gewerkschaft an. Die fünf großen „Syndicats“ sind aber nicht branchenorientiert, sondern ideologisch ausgerichtet und können mit wenigen organisierten Leuten Lebensnerven des Staates lähmen, zum Beispiel Druckereien, Raffinerien und Atomkraftwerke. 

Hollande kämpft. Weicht er zurück, ist er politisch am Ende. Bricht er die Macht der Gewerkschaften, behält er die Chance auf Zukunft. Und natürlich: Sollte es zu einem Anschlag kommen, stünde das Land, stünden wieder alle zusammen, wie eine gute Mannschaft.