© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Schule und Bildung
Es wird nicht mehr erzogen
Konrad Adam

Alle klugen Sprüche folgen einem Muster, alle dummen auch. Als Angela Merkel mit dem Satz „Wir schaffen das!“ vor die Presse trat, zitierte sie, wahrscheinlich unbewußt, einen amerikanischen Erziehungswissenschaftler, den an der Universität vor Chicago lehrenden Psychologieprofessor Benjamin Bloom, der seinerzeit, von mehr als vierzig Jahren, mit der Parole „Alle Schüler schaffen es!“ für Wirbel gesorgt hatte. Daß niemand wußte, niemand weiß und niemand wissen kann, was damit gemeint war, sicherte Blooms „Es“ dieselbe Aufmerksamkeit wie Frau Merkels „Das“. Beide hatten begriffen, daß Behauptungen um so lieber nachgesprochen werden, je weniger sie bedeuten. Jeder denkt sich, was er will, und klatscht Beifall.  

Eingelöst hat Bloom sein windiges Versprechen natürlich nie. Den Grund dafür hatte einer der eifrigsten Schulreformer, ein Dortmunder Gesamtschullehrer mit Namen Federlein, gleich zu Beginn der Sturm-und-Drang-Zeit offen ausgesprochen. Angeregt und aufgeregt durch die großspurigen Verlautbarungen von kritischen Bildungsforschern, kritischen Bildungsplanern und kritischen Bildungspolitikern hatte der Mann seinen Unterricht kurzerhand zum erziehungsfreien Raum ausgerufen. Als einige besorgte Eltern von ihm wissen wollten, wo seine Schüler denn das Lesen, das Rechnen und das Schreiben lernen sollten, antwortete der gute Mann: „Zu Hause!“

Damit hatte er recht – allerdings nur dort, wo das Elternhaus in der Lage war, die ihm zugewiesene Aufgabe tatsächlich auch zu erfüllen. Nur dort also, wo die Reformpädagogen die berüchtigten Bildungsprivilegien zu Hause sahen, die sie doch gerade abschmelzen, abbauen und abräumen wollten, um endlich Chancengleichheit, das Schlagwort der Epoche, herzustellen. Um damit Ernst zu machen, hätten sie mehr für diejenigen tun müssen, die weniger mitbrachten: so wie es die Theoretiker der Chancengleichheit ja auch immer wieder verlangt hatten. Nur so, durch gezielte Förderung der Schwachen, hätten mehr Schüler als bisher „es“ schaffen können.   

Daraus ist nichts geworden. Im Gegenteil sind die ohnehin schon Benachteiligten, die Kinder aus bildungsfernen Schichten, immer weiter zurückgefallen; die PISA-Studien der OECD haben das noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Als Folge einer Unterschichtenpädagogik im Stil von Federlein war das auch nicht anders zu erwarten. Wenn sich die Schule weigert, ihrem Bildungsauftrag nachzukommen, werden diejenigen Kinder am härtesten bestraft, für die ein guter Lehrer durch nichts auf der Welt zu ersetzen ist. Sie haben ja kein Elternhaus, das wettmachen könnte, was die Schule versäumt hat.

Die Schule der Nation sei die Schule, hieß der bekannte Satz aus Willy Brandts Regierungserklärung im Oktober 1969 als Kanzler der ersten sozialliberalen Koalition. Dieser hochherzige Anspruch ist von der Mehrheit der Reformpädagogen verraten worden. Um alle auf das gleiche Maß zurückzustutzen, fingen sie bei den Köpfen an. Ihr Ideal war nicht die Bergwiese mit ihren vielen bunten Blumen, sondern die gleichmäßig geschorene Rasenfläche. Immer wieder haben sie die Mähmaschine hervorgeholt, um abzuschneiden, was über den Durchschnitt hinausgewachsen war. Nicht Chancengleichheit, sondern Gleichheit war ihr Ziel. 

Die Inklusion ist nur ein neuer Weg dorthin. Der Versuch, behinderte und gesunde, gute und schlechte Schüler – die es ja gibt, auch wenn die wissenschaftlich aufgeputzte Pädagogik das nicht wahrhaben will – gemeinsam zu unterrichten, läuft in der Praxis darauf hinaus, zweimal Unrecht zu tun: dadurch, daß man sowohl den schwächeren als auch den stärkeren Schülern die ihnen zustehende besondere Förderung vorenthält. Unterschiede sollen nicht mehr sein und werden, wo sie sich trotzdem zeigen, weggebügelt. Vom gleichen Recht auf die Entfaltung unserer unterschiedlichen Fähigkeiten bleibt in der Gesamt-, der Stadtteil- oder der Gemeinschaftsschule nicht viel übrig.

Bildungstheoretiker betrachten Bildung als eine Ware. Als Ware, die sich durch Umverteilung gleichverteilen läßt. Für sie ist das Lernen ein Nullsummenspiel, bei dem den einen das zugute kommt, was den anderen vorenthalten oder weggenommen wird. Es müsse verhindert werden, hieß es dazu in einer pädagogischen Fachzeitschrift, „daß Schüler mit günstigeren Eingangsbedingungen und höherer Lerngeschwindigkeit sich zusätzliche Fähigkeiten und Kenntnisse aneignen, die ihnen gegenüber den anderen, sozusagen einfach erfolgreichen Schülern doch wieder Leistungsvorteile sichern“. Das war immerhin ehrlich: Bremsen statt fördern!

Unter solchen und ähnlichen Devisen ist das ehemals weltweit bewunderte deutsche Schulsystem zertrümmert worden. Auch die Odenwaldschule, Vorzeigeprojekt aller gläubigen Reformer, mußte im Sommer vergangenen Jahres schließen, nachdem sie von ihrem langjährigen Leiter Gerold Becker so weit heruntergewirtschaftet worden war, daß selbst progressive Eltern ihm und seinen Kinderfreunden nicht mehr über den Weg trauten. Als die bedrängten, gedemütigten und mißbrauchten Schüler Hartmut von Hentig, der als Intimfreund Beckers jahrelang in der Odenwaldschule ein- und ausgegangen war, zur Rede stellen wollten, fiel diesem leidenschaftlichen Pädagogen nichts anderes ein als die kühle Frage: „Was habe ich damit zu tun?“ Und dann: „Mein Freund bleibt mein Freund.“

Soll man sich wundern, daß eine Erziehungswissenschaft, die sich solchen Gurus anvertraut, versagt? Am Ende dann sogar beim Gegenteil von dem landet, was sie versprochen hatte? Untrügliches Indiz für das Versagen der Reformer ist die Nachhilfeindustrie, eine Sumpfpflanze, die früher nur im Schatten blühte, inzwischen aber mehr als zwei Milliarden Euro jährlich umsetzt, mit deutlich steigender Tendenz. Nachhilfe kostet, ist etwas für die Kinder reicher Leute, nichts für die Angehörigen der Unterschicht – und befördert damit genau das, was das Grundgesetz aus gutem Grund verhindern wollte, als es die Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern ausdrücklich verbot.

Eben dort sind wir inzwischen angekommen. Jahrelang hatte sich die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher mit ihren Reklamesprüchen für die Gesamtschule um einen höheren Posten in der Bildungsindustrie beworben. Als sie ihn schließlich hatte, wurde sie in ihrer Eigenschaft als Staatssekretärin im hessischen Kultusministerium gefragt, warum ihr Nachwuchs die Internatsschule in Salem am Bodensee besuchte. Ihre denkwürdige Antwort: Mit seinen eigenen Kindern sei man eben „immer etwas eigen“. Nur mit den eigenen natürlich; der Rest kommt auf die Gesamtschule, um dort „mehr Chancengleichheit bei der Verteilung negativer Güter“ herzustellen.

Der polnische Arzt, Kinderbuchautor und Pädagoge Janusz Korczak, ein Mann, der über Erziehung nicht geredet, sondern selbst erzogen hat, kannte seine Kinder. Er begleitete sie mit Geduld, Verständnis und Wohlwollen, auch und gerade da, wo sie über die Stränge schlugen und Dinge taten, die er für falsch hielt. Dann wurde er deutlich und machte ihnen klar, „daß es schlecht ist, was da geschieht“. Kein deutscher Lehrer würde es heute noch wagen, den Unterschied zwischen „Wahr“ und „Falsch“ und „Gut“ und „Böse“ so eindeutig zu benennen und gegenüber den Kindern dann auch durchzusetzen. Die Pädagogik hat vor einer Wissenschaft kapituliert, die sich so nennt, aber keine ist. Mit dem Ergebnis, daß in Deutschland nicht mehr erzogen wird.







Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, Publizist, war zwei Jahrzehnte lang Feuilletonredakteur der FAZ und danach bis 2007 Chefkorrespondent der Welt.