© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Gute Sitten
Von Narren und Freien
Eberhard Straub

Bei den Barbaren müssen Gesetze die Sitten heranbilden; bei den gebildeten Völkern verfeinern die Sitten die Gesetze und machen sie zuweilen überflüssig“, bemerkte der französische Schriftsteller Charles Pinot Duclos 1751 in seinen „Considerations sur les moeurs“. Für diesen eleganten Weltmann und homme de lettres war es unvorstellbar, daß Menschen einmal so geschmacklos würden, auf die Gebote des Anstandes und der guten Sitten zu verzichten. Aufgeklärte Menschenfreunde vertrauten fest auf die Überzeugungskraft ungeschriebener Spielregeln über das, was man tut oder besser unterläßt. Denn sie leiten zu Umsicht und Mäßigung, auch unter dem Druck stürmischer Empfindungen, auf die Stimme der Vernunft zu hören und sich nicht von rohen Affekten überwältigen zu lassen und darüber Freundschaften, gar die öffentliche Ordnung zu gefährden. Die Rücksichtnahme auf andere nötigt dazu, seine jeweiligen Freiheitsrechte nicht zu übertreiben, wie es die hergebrachte Goldene Regel empfiehlt: „Was du nicht willst, daß man dir tu’, das füg auch keinem anderen zu.“ Oder positiv gewendet: Leiste dem Anderen oder Nächsten, was du von ihm als Leistung erwartest. Diese Weltklugheit sollte sittlich-liebenswürdigen Umgang untereinander ermöglichen, der jeden dazu aufmuntert, noch vorhandene Roheiten abzuschleifen, um insgesamt wohlgefällig und gesellig-verbindend zu wirken. 

Wo alle oder viele nach solchen Maximen handeln, erübrigt sich ein ausufernder Gesetzgebungsstaat, wie Liberale im 19. Jahrhundert hofften. Ihr Rechtsstaat sollte ja nicht wieder zur barbarischen Reglementierung des mannigfaltigen, individuellen Lebens führen. Sie brauchten die unerschütterte Autorität des guten Geschmacks und der  guten Sitten. Verlieren die guten Sitten ihre Kraft, können Gesetze das Zusammenleben nicht erleichtern. Denn es ist unmöglich, alle Verderbtheiten des Menschen vorausplanend abzuwehren. Das gab der liberale Alexis de Tocqueville 1840 zu bedenken. In der Verrechtlichung der bürgerlichen Ordnung, alles Handeln als legal zu rechtfertigen oder sich darauf zu berufen, daß erlaubt sein muß, was nicht ausdrücklich verboten ist, fürchteten Liberale die allmähliche Zerrüttung einer freien Ordnung. Sie bedarf der Rücksicht des einzelnen auf die anderen. Nicht alles, was gesagt werden darf, muß überall gesagt werden. Alles am passenden Ort und bei der angemessenen Gelegenheit. Streit gehörte zur liberalen Bourgeoisie, der diskutierenden Klasse. Sie duldete kräftige Polemik, Witz und Geistesgegenwart waren als scharfes Gewürz höchst willkommen, aber grobe Verstöße gegen den guten Geschmack disqualifizierten einen Redner. Er machte sich unmöglich. Diese Zeiten sind wie der gesamte Liberalismus ferne Vergangenheit. 

Wer frech, verwegen oder plump auftritt, erregt Aufmerksamkeit. Er bestätigt mit seinem Verhalten, ein kritischer Kopf zu sein, der Nachdenken provoziert und vorsichtige Zeitgenossen in heilsamen Schrecken versetzt. Grobheiten und Vulgaritäten werden sogar mit trotziger Energie verteidigt. Die Würde westlicher Lebensart bestehe ja darin, wie es immer wieder heißt, sich über Verletzungen des Geschmackes, der Höflichkeit und des sittlichen Anstands nicht weiter aufzuregen. Denn die allgemeine Freiheit muß sehr robust sein und viel aushalten. Die  Freien dürfen deshalb nicht zimperlich sein. Eher kräftig zuzuschlagen, statt elegant einen Gegner zu treffen, bestätigt Mut zur Klarheit und Offenheit, eine Eigenschaft, auf die eine Gesellschaft der Freien dringend angewiesen ist. Hinschauen, nicht wegschauen! Dank dem, der Träge wachrüttelt und verkrustete Strukturen aufbricht oder unüberhörbar warnt und mahnt. 

Schriller Lärm stiftet fast Glück, nämlich das begeisternde Bewußtsein, immer noch in der besten aller Welten zu leben, geprägt und belebt von aufklärender Vernunft. Barbarische Eigenwilligkeiten können diese Vermutung nicht erschüttern, weil „die Aufklärung“ nicht starr und pedantisch ist, sondern immer in Bewegung, wie wir alle es sein sollen. Die westliche Wertegemeinschaft, die sich inbrünstig als Ziel und Ende der Geschichte ununterbrochen selbst feiert, ist die erste Gemeinschaft, die in peinlichen Narren, in Lärmtrompeten des Nichts, Helden der Freiheit und selbstbestimmter Aufrichtigkeit würdigt. Jeder hatte stets das Recht, sich öffentlich zum Narren zu machen. Nicht jeder verfügte über die Weisheit der Narren Shakespeares oder des scharfsinnigen Gracioso bei Calderón. Also wurden viele Albernheiten und eklatante Ungezogenheiten nicht weiter beachtet und hatten keine Folgen. In hemmungsloser Sorglosigkeit gegenüber den Regeln des Geschmackes und eleganter Umgangsformen erkannten klassische Liberale eine betrübliche Unfreiheit, vollständig von Leidenschaften verwirrt und beherrscht zu werden. Eine solche Welt erschien ihnen als verkehrte Welt, als Narrenschiff, in der die Vernunft unbeachtet wie eine entthronte Königin ein dürftiges Dasein  fristet. 

Das Prinzip, sich aus Anstand in seiner authentischen Ausdrucksfreude etwas einzuschränken, hat jede Autorität und damit jedes Ansehen eingebüßt. Denn die Freiheit, wie sie der Rechtstaat schützt,  wird ganz persönlich aufgefaßt, als Freiheit zur Selbstverwirklichung, als Recht auf authentisches Leben unter Berufung auf die Meinungsfreiheit oder künstlerische Freiheit, die Rechte sind. Ein hohes Gut wie die Freiheit, ein ideales Postulat, immer gefährdet und nie erreicht, ist längst von Paragraphen umzingelt, die alle möglichen Freiheiten berechtigen. Die ungeschriebenen Regeln der guten Sitten und des Geschmackes, die Wächter und Hüter der Freiheit, ersetzte ein motorisierter Gesetzgeber durch gesetzliche Vorschriften. Das Zusammenleben der Freien ist mittlerweile weitgehend verrechtlicht. Das sorgt nicht für Ordnung, sondern vom Kindergarten angefangen für Streit und Unordnung. 

Die Freien sind zu Rechthabern geworden, die sich wechselseitig in Auseinandersetzungen um ihr Recht bekämpfen und zu keiner Ruhe kommen. Sie haben gelernt, auf ihre Rechte zu achten und empfindlich auf  jeden Widerspruch zu reagieren, nahezu als Angriff auf ihre Menschenwürde gereizt auszulegen. Eine bedeutende Idee wird erniedrigt zum Mittel kleinlicher Intrigen, die sie allerdings um ihre feierliche Erhabenheit bringen. Während der zahllosen Streitigkeiten in einer Wertegemeinschaft aus Prozeßhanseln wandelt sich nach und nach die Freiheit wieder zum Privileg, die sich Pfiffige und Schlaumeier unter den Besserverdienenden vor Gericht verschaffen und die andere aufreizt, im Vorteil jener einen Nachteil für sich zu erkennen. Öffentliche Tugenden – mit den guten Sitten und dem Geschmack verbunden – verloren indessen ihr Prestige. 

Es wurden so viele Bräuche als Mißbräuche, Tugenden als Verklemmungen und Laster als Vorurteile entlarvt, daß sich darüber jede verbindliche Vorstellung von dem, was man tut oder läßt,  auflöste. Selbst die schlichte Tugend des formalen Anstandes beschränkt sich endlich auf den bloßen „Benimm“, auf sozialästhetischen Zierat, sofern er nicht dem Streben nach Erfolg in der Wettbewerbsgesellschaft im Wege steht. Die guten Sitten und der Geschmack sind zu kraftlos geworden, um noch mit ihrem esprit de finesse auf die Gesetzgeber und die Gesetze einwirken zu können. Wir nähern uns wieder der gesetzlich geregelten Barbarei der Vorzeit.






Dr. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, Historiker, war Feuilletonredakteur der FAZ. Heute arbeitet er als freier Journalist und Buchautor.