© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Das Glück braucht Stillstand
Entschleunigung: Die Bestimmung des Menschen liegt in der Suche nach dem Reich der Freiheit
Eberhard Straub

Keine Zeit zu haben, das zeichnet die vorbildlichen Leistungsträger aus. Sich Zeit zu lassen erweckt sofort den Verdacht, ein auslaufendes Modell zu sein und den Anforderungen im Wettbewerb nicht mehr gewachsen zu sein. Denn Zeit ist Geld. Mit ihr muß scharf kalkuliert werden. Wer nicht schneller als der andere, gar der Schnellste sein möchte, gerät sogleich ins Hintertreffen. Er verliert an Wert in einer alles bewertenden Marktgesellschaft, die nie zur Ruhe kommt im Strudel des Aufwertens, Abwertens oder Entwertens. Wer sein Werteempfinden nicht ständig verfeinert, wird auf dem Markt und in der Zeit wertlos und damit nutzlos.

Das ökonomistische Denken hat Theologie, Philosophie oder Ästhetik beiseite gedrängt, deren Nutzwert schwer zu kalkulieren und deshalb unerheblich ist. Der Mensch soll den Sinn seines Lebens, sofern er danach fragt, auf dem Markt empfangen, in der ihn belebenden Konkurrenz, die auch eine Konkurrenz der Lebensstile ist. 

Schon vor Karl Marx und Friedrich Engels – aufmerksame Schüler des humanistischen Gymnasiums –, die in klassischen Sätzen die zeitverschlingende und alles Unwirtschaftliche zermalmende Macht des den ganzen Globus durchjagenden Geldes schilderten, erschrak 1825 der greise Goethe vor dem Turnerprinzip des unaufhaltsamen Kapitalismus: immer schneller, immer höher, immer weiter. „Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tag vertut und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne etwas vor sich zu bringen (…) und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.“

Velocitas – die Geschwindigkeit und alles und jeden beschleunigende Kraft – und Luzifer, den Rebellen gegen Gott und dessen sinnvolle, harmonische Ordnung brachte Goethe in einen Zusammenhang. In der stürmischen Beschleunigung fürchtete er ein satanisches Prinzip, eine den Menschen vernichtende Unersättlichkeit, die seinen Faust in die Katastrophe trieb. 

Alexis de Tocqueville beobachtete fast um die gleiche Zeit die Unrast der von der Zeit gejagten Produzenten und Verbraucher in den USA, die fieberhaft nach Wohlstand strebten und unbefriedigt von allem nach immer neuen Abwechslungen und Genüssen strebten. Wer von der Jagd nach Gütern dieser Welt besessen sei, der werde es immer eilig haben, da ihm nur wenig Zeit bleibe, sie zu entdecken, zu ergreifen und zu genießen. Zum Genuß komme er gar nicht, geplagt von der Angst, den kürzesten Weg zum Glück womöglich zu verfehlen.

Deshalb schlagen diese Schatzjäger dauernd  neue  Wege ein, um so rasch wie möglich zum großen Reichtum zu gelangen. Diese ständige Neu-Begier wird heute unbedingt als Wille zur Innovation oder Kreativität vorausgesetzt, da beides davor bewahre, in verkrusteten Strukturen darben zu müssen, einem offenbaren Unglück. Die damit verbundene Verpflichtung zur unermüdlichen Selbstüberholung entfesselte alsbald einen Arbeitsenthusiasmus, der wie ein welterlösendes Pfingstwunder die Arbeitenden ergriff und verzückte. 

„Arbeit ist das Zauberwort, / Arbeit ist des Glückes Seele, / Arbeit ist des Friedens Hort“. Das schärfte der Dichter Heinrich Seidel ruhelosen Bürgern am Ende des 19. Jahrhunderts ein. Nicht Gott, nicht Ideen, nicht geistige Kräfte und ästhetische Erziehungsentwürfe helfen dem Menschen und verhelfen ihm zur Erkenntnis seiner selbst und seiner Aufgaben mitten in der Welt. Es ist die Arbeit, ganz gleich welche, die errettet, die den Menschen als das Wesen, das arbeitet, dazu befähigt, überhaupt Mensch zu werden. Der Ehrgeiz, das Verlangen nach Erfolg, nach Reichtum, nach Einfluß, nach sozialem Aufstieg ließen die Arbeit wie eine numinose Macht erscheinen. Diese nie zu stillenden Begehrlichkeiten schufen eine Unrast und Aufgeregtheit unter den immer Eiligen, die endlich gar keine Zeit mehr haben und deshalb nicht einmal mit ihrem Reichtum etwas anfangen können, weil ungeübt in der Kunst des genußvollen Müßiggangs. 

Vor dem Aufstieg des unablässig rollenden Geldes zur wahren Weltmacht erwarb sich jemand Ansehen, weil er Zeit hatte und als freier Mann nach eigenem Ermessen über seine Zeit verfügen konnte. Es war das Ideal, fern von den Zwängen der Notwendigkeit – dem Arbeitenmüssen – das Reich der Freiheit zu suchen. In ihm tritt der Mensch weitgehend aus allen Entfremdungen heraus, weil dort nicht auf reine Funktionstüchtigkeiten reduziert. So dachten Schiller, Goethe, Hegel und Marx. Sie hielten es für unvereinbar mit der sittlichen Bestimmung des freien Menschen als liquide Biomasse oder als Humankapital für Zwecke anderer verwertet zu werden. Der Mensch als Schlachtopfer des Fleißes, als Bruchstück, gelangt nicht zur Harmonie seines Wesens, sondern bleibt Ausdruck seines Geschäftes, er bleibt Berufsmensch, auch in der sogenannten Freizeit. Denn auch sie besteht nicht aus Freiheit von Arbeit. Ganz im Gegenteil, wer den Betrieb verläßt, stürzt sich in den Betrieb. Denn Freizeit ist Konsumzeit. Sie hat  sich den beschleunigten Rhythmen der industriellen Welt angepaßt. Die Freizeit wurde zur Erweiterung der Arbeitswelt; in ihr wird verbraucht, was vorher produziert wurde. Wenn sich nicht ununterbrochen der Verbrauch steigert, bricht die Sinnkrise aus. 

Doch der Mensch ist nicht das Wesen, das arbeitet. Er ist, wie es durch die Jahrhunderte seit der Antike hieß, das Wesen, das argumentiert, das redet, das im Umgang  mit anderen von der Freude Götterfunken begeistert wird. Das setzt Muße voraus, Zeit zum Sinnen und zum Betrachten, freie Zeit. Diese Zeit wird dem Menschen heute verweigert, fern von Beschleunigungen der Lebens-Arbeitsrhythmen nach eigener Vorstellung zur Ruhe zu kommen.

Die Ökonomisten mißtrauen solchen Ideen der Freiheit und einer Humanität unabhängig vom freien Markt. Die marktwirtschaftliche Humanität faßt knapp die Devise einer Drogeriekette zusammen: Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein. Schiller, Goethe, Hegel, Humboldt oder Marx dachten nicht an Verbraucher und Marktstrategien, um ein Produkt an den Mann zu bringen. Sie dachten an den Menschen und dessen Bestimmung, die in der Bildung zur Freiheit liegt. 

Wie so oft liegt die Zukunft in der Vergangenheit. Deswegen werden die Vergangenheit und die Geschichte in der Brave New World so gefürchtet und umsichtig manipuliert. Denn aus ihr steigen auf „der Freiheit ungeheuere Gefühle“, die Hugo von Hofmannsthals Schiffskoch mitten im Elend die Gewißheit gaben, dennoch Mensch zu sein. Denn mit ihnen war  verknüpft, wonach er sich sehnte und was ihm Halt gab: seine Idee des Glücks. Der Mensch unterscheidet sich von allen anderen Wesen, weil er auf das Glück wartet und dabei hofft, daß es sich ihm schenkt.

Die ökonomische Utopie, die heute als bewußtseinserweiternde Droge jedem zum täglichen Gebrauch gereicht wird, lebt von der frohen Botschaft, unendliche Bedürfnisse des unerschöpflichen Menschen auf immer neuen Wegen mit unendlich variablen Produkten bedienen zu können. Eine Befriedigung ist aber gar nicht vorgesehen. Das Bedürfnis muß immer unbefriedigt bleiben, damit die Begehrlichkeit nach anderen Gütern wach bleibt. Markt und Mensch dürfen nie zur Ruhe finden in einer zeitweiligen Freiheit vom Tempo des ökonomistischen Zeitvertreibs und seiner  gar nicht so sanften Überredungskünste. 

Die Menschen haben aber ein Heimweh nach Glück, nach dem Glück, das sich ihnen meist verweigert. Sie wollen unbedingt aus ihrem Unglück heraus. Der Markt der unbegrenzten Möglichkeiten enttäuscht, weil all seine Angebote die Unruhe nicht besänftigen, die den Menschen im Trubel der sich überstürzenden Geschwindigkeiten nie verläßt.

Vom Glück und der Suche nach Glück ist heute pausenlos die Rede. Das Glück braucht Zeitlosigkeit, Stillstand, ja – wie alle Lust – Augenblicke der Ewigkeit. Die Einkaufsparadiese und Erlebniswelten gewähren keine Stabilität. Die Umtriebigkeit auf dem Markt, in der Arbeitswelt und deren Erweiterungen in der Frohsinnsproduktion sollen möglichst jeden von sich ablenken und ihn vor Stimmungen bewahren, sich etwa nicht mehr wohlzufühlen in der besten aller Welten, der Welt glitzernder Entfremdung. 






Dr. phil. habil. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, arbeitet seit zwanzig Jahren als freier Publizist und Buchautor. Zum Thema „Entschleunigung“ veröffentlichte er 2004 den inzwischen nur noch antiquarisch erhältlichen Großessay „Vom Nichtstun. Leben in einer Welt ohne Arbeit“.