© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Gisela Stuart. Die gebürtige Deutsche führt die britische Kampagne für den EU-Austritt
Mutter des Brexit
Robert Grözinger

Ausgerechnet eine deutschstämmige Unterhausabgeordnete der Labour-Partei führt die Initiative „Vote Leave“ an, die für den Austritt Großbritanniens aus der EU wirbt. „Wie kannst du nur?“, bekommt Gisela Stuart deshalb immer wieder aus Deutschland zu hören.

Seit 1997 vertritt die Sozialdemokratin einen Wahlkreis in Birmingham, den einstmals ausgerechnet der konservative Premierminister Neville Chamberlain innehatte. Aufgrund der Kriegserfahrungen ihrer Familie trete sie zwar instinktiv für eine engere Zusammenarbeit der Völker ein, bekennt die 1955 als Gisela Gschaider im niederbayrischen Velden bei Landshut Geborene, die 1974 nach Großbritannien ging und 1980 dort heiratete. Aber eine andere, direktere Erfahrung habe ihre Haltung dem EU-Projekt gegenüber nachhaltig verändert.

Anfang der 2000er Jahre saß Stuart für Labour-Premier Tony Blair im Verfassungskonvent der Europäischen Union. „Ich wollte damals eine Ausstiegsklausel, ein Ende des Integrationszwangs und einen Mechanismus, mit dem die Macht nach Brüssel nicht nur zu-, sondern auch abwandern kann – alles wunderbar demokratische Forderungen“, erklärte Stuart jüngst in einem Interview. Im Unterschied zu den eher „rechten“, euroskeptischen Tories und der Ukip geht es der ehemaligen Staatssekretärin im britischen Gesundheitsministerium aber nicht um die Frage der nationalen Souveränität. Politische Unterstützung in dieser Hinsicht von jenseits des Kanals, nämlich von Front-National-Chefin Marine Le Pen für „Vote Leave“ lehnte sie jüngst folglich auch strikt ab. Stuart geht es vielmehr um die Frage der Demokratie. Ihre genannten Forderungen nach mehr demokratischer Kontrolle stießen in Brüssel nämlich auf heftigen Widerspruch: „Das wurde als absolute Häresie wahrgenommen. Der damalige Kommissionspräsident warf mir ‘Beleidigung der Kommission’ vor.“

Die Labour-Partei ist – selbst unter dem ehemals euroskeptischen Jeremy Corbyn (JF 38/15) – mit wenigen Ausnahmen allerdings nicht auf Stuarts Anti-EU-Linie. Corbyn warnte dieser Tage gar vor einem „Fegefeuer der Arbeiterrechte“, sollte der Brexit kommen. Stuart hält dagegen, daß Labour für die meisten Fortschritte im britischen Arbeitsrecht verantwortlich sei, die EU sei dafür nicht nötig gewesen. Hingegen werde ein Herzstück britischer Sozialdemokratie, das staatliche Gesundheitswesen NHS, durch das TTIP-Abkommen der EU mit den USA bedroht. Außerdem falle auf, wie schwach der Arbeitsmarkt in der EU seit der Finanzkrise im Vergleich zu dem anderer Länder sei. Die Europäische Union sei ein Auslaufmodell aus dem 20. Jahrhundert und nur ein Austritts Großbritanniens, so warnt Stuart, könne eine ernsthafte Reform in Gang bringen, die Europa wieder zukunftsfähig macht.